Das neue Evangelium
bekommen, was er wollte. Ein Triumph ohnegleichen! Man würde ihm höhere Aufgaben anvertrauen, und dann konnte er noch ganz andere Dinge tun, als hier Ketzer zu jagen. Dann würde er Gesetze machen, die die Welt in seinem Sinne regelten.
Das Abendland, das wusste Grimaud, konnte nur gerettet werden, wenn die Toleranz ein Ende fand. Die Feinde sollten sich fürchten vor dem erstarkten christlichen Staat.
Und dabei war es unwichtig, ob, wie jetzt durchsickerte, der Herrgott überhaupt keinen eingeborenen Sohn auf die Erde geschickt hatte. Irgendjemanden hatte es gegeben, im Heiligen Land stieß man überall auf seine Spuren, und er trug den Namen Jesus Christus. Und sie beteten ihn an. Das taten alle Christen, als sei er ihnen ein guter Bekannter. Er hatte die Sünden der Menschen auf sich genommen, um sie davon zu erlösen.
Also konnte jetzt wieder gesündigt werden.
Dazu war Grimaud bereit.
Schuld empfand er nicht. Seine Sünden kamen den Gerechten, den Tiefgläubigen, den Machthabenden zugute. Sie waren damit notwendig. Es ging nicht ohne sie. Sie waren ein Akt der Notwehr in einer Welt grimmiger Feinde.
Grimaud war bereit.
11
Anfang März 1320. Tage des Barnabas
»Kennst du die Kirche von Soloi? Sie gehörte einst zu den Weltwundern. Sie leistete den eindringenden Feinden am längsten Widerstand, länger als die Festungen! Das kann nur mit Gottes Hilfe geschehen sein, so glaubten es auch die Tausende, die in den heiligen Mauern Zuflucht gesucht hatten. Die Feinde untergruben schließlich die Mauern, die Kirche stürzte zusammen und begrub alles unter sich. Aber bis zum letzten Moment ertönten die Gesänge der Christen. Und noch heute hört man sie – wenn man sie hören will. Ich möchte dir diese Kirche gern zeigen. Denn dort wartet eine Botschaft auf dich!«
Henri blickte Jesus de Burgos skeptisch an. Er verstand nicht, woher dessen plötzliches Interesse für diese Dinge kam. Allein dieser Redestrom war über die Maßen ungewöhnlich, denn Jesus schwieg meistens. Was hatte der Pilger vor?
»Wir sind in einer schwierigen Situation, Jesus«, erwiderte Henri. »Madeleine wird uns in zwei Tagen verlassen, du hast es ja gestern Abend gehört. Uthman müht sich mit diesem Evangelium, nach dem alle suchen. Ludolf ist unruhig, ich weiß nicht, was er vorhat. Und dieser Grimaud, dem ich nicht recht traue, macht mir Sorgen. Deshalb kann ich keine Ausflüge machen.«
Jesus trat nahe an Henri heran. »Du musst mit mir kommen«, sagte er leise. »Denn ich sagte ja, in der Kirche gibt es eine Botschaft für dich. Ich werde sie dir dort überbringen.«
Verwundert blickte Henri auf Jesus. Was hatte der alte Pilger nur? In der letzten Zeit hatte er sich auffällig im Hintergrund gehalten. War nun ein Entschluss in ihm gereift?
»Wo liegt diese Kirchenruine?«, fragte Henri halbherzig.
»Sie ist sehr abgelegen, aber dennoch in einem halben Tagesritt zu erreichen. Du wirst es nicht bereuen. Wir reiten die Hügel hinter der Stadt hinauf. Auf dem höchsten Punkt steht die Kirche. Von dort blickt man auf das Meer. Und rund um Soloi befinden sich Nekropolen. Geometrische und archaische. Dort scheint mir im Moment der richtige Ort für uns zu sein, um über unser Schicksal nachzudenken.«
»Jesus, ich glaube nicht, dass du mich überzeugen kannst«, meinte Henri. »Ich muss hier bei meinen Gefährten bleiben. Sie brauchen mich. Vielleicht haben wir später einmal Zeit, wenn hier alles getan ist, was im Moment…«
»Du willst nicht!« Die Stimme von Jesus hatte einen hohen, weinerlichen Ton angenommen. Henri befürchtete schon, der alte Mann würde zu weinen beginnen. »Du schätzt meine Vorschläge gering! Stattdessen bist du versessen auf dieses ketzerische Evangelium. Dabei wirst du zunehmend blind für die Gefahr, die dir ganz persönlich droht.«
»Ich kenne diese Gefahren«, sagte Henri ruhig. »Seit einem Dutzend Jahren bedrohen sie mich. Ich lebe damit.«
»Du bist Templer! Durch und durch! Immer noch!«, stieß Jesus hervor. »Du wirst diesen Glauben niemals aufgeben!«
Henri nahm die Blitze in den Augen seines Gegenübers wahr. Dieser Mann schien ihn zu hassen. Oder übermannte ihn tatsächlich die übergroße Sorge um Henri?
»Selbst wenn ich Templer war, dann muss ich es doch heute nicht mehr sein«, meinte Henri vorsichtig. »Beschäftige dich nicht mit mir und solchen Dingen.«
»Das muss ich aber! Ich bin in Sorge. Ich will dich schützen!«
»Schütze mich, indem du mich mit
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