Das neue Evangelium
deinen Sorgen in Frieden lässt, Jesus«, meinte Henri, dem der Zwischenfall im Gebirge in Erinnerung kam. »Die Kirchenruine von Soloi muss warten. Wenn du mir etwas Wichtiges mitzuteilen hast, dann tue es hier und jetzt.«
Enttäuscht wandte Jesus sich ab. »Dann werden die Dinge wohl ihren Lauf nehmen müssen«, sagte er. »Und du bist selbst dafür verantwortlich.«
Jesus ging nach draußen. Henri blieb gedankenverloren zurück. Er war jetzt davon überzeugt, dass Jesus ein Geheimnis mit sich herumtrug. Erst jetzt begriff er, dass es für sein Schweigen in der letzten Zeit einen besonderen Grund gegeben haben musste.
Ein schlimmer Gedanke kam Henri. War Jesus in einem geheimen Auftrag unterwegs? Wie hatte dieser Grimaud sich ausgedrückt? Er hatte Jesus verunglimpft. War an diesem Vorwurf etwas Wahres? War Jesus etwa ein Spitzel?
Handelte es sich bei ihm, wie Henri schon von Anfang an befürchtet hatte, um einen Spion der Franzosen, der auf ihn persönlich angesetzt worden war?
In diesen Gedanken vertieft, bemerkte Henri plötzlich Ludolf von Suchen, der das Gespräch verfolgt hatte. Er stand im Halbdunkel des Gasthofs und blickte zu ihm herüber. Dann drehte er sich um und verschwand.
Uthman las und las. Er konnte sich von dem Text nicht lösen. Er war gefesselt von den Wahrheiten, die in diesem neuen Evangelium standen.
Konnte es wirklich sein, dass sich alles so zugetragen hatte? Uthman ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Er versuchte, alles zu verstehen. Er verglich, er verwarf. Er überlegte, wie alles zusammenhing.
Der Koran, dachte Uthman, ist die letzte, von allen Fehlern gereinigte, die wahrhaft Heilige Schrift. Das letzte Buch in einer Reihe von heiligen Büchern, der Thora, den Psalmen, den Evangelien. Das ist so wahr, dachte Uthman, wie Allah wahr ist.
Der Islam sieht sich nicht, wie man ihm vorwirft, als neue Religion, wusste Uthman, sondern als Bestätigung der vorangegangenen Offenbarung, die zuerst Abraham zuteil wurde und später noch Moses und Jesus. Uthman hatte mit Henri oft darüber gesprochen und gestritten.
Er wusste, es gab Stellen im Koran, in denen Juden und Christen als rechtgläubige Muslime galten. Sure 22, 40 erwähnte Klöster und Kirchen und Synagogen und Moscheen, in denen der Name Allahs viel genannt wurde. Und in Sure 29, 46 stellte der Koran bezüglich Juden und Christen fest, dass Muslime an das glauben, was zu uns herabgesandt wurde, und zu euch herabgesandt wurde, und unser Gott und euer Gott sind einer. Genau das stand dort geschrieben. Und das war auch der Grund dafür, dass Uthman und Henri Freunde geworden waren.
Allerdings sagte der Koran auch, dass die Botschaft Mose von den Juden und die Botschaft Jesu von den Christen verfälscht wurde. Dementsprechend berichtete der Koran nicht nur von Adam und Eva, von der Sintflut, von Abraham, Lot und Isaak, von Moses und dem jüdischen Propheten, sondern auch von Johannes dem Täufer und von Jesus, dem Sohn der Maria, dem Messias. Uthman musste den Koran, den er immer bei sich trug, nicht aufschlagen, um sich dessen zu vergewissern. Jesus wurde darin als ein direkter Vorläufer Mohammeds bezeichnet, den er selbst ankündigte.
Auch darüber hatte Uthman mit Henri oft gestritten.
Geboren worden war Jesus von der Jungfrau Maria, der eines Mittags ein Engel die Geburt des Messias verkündete. Jesus ist aber nicht Gottes Sohn, dachte Uthman, sondern wie Adam aus dem Wort Gottes geschaffen. So sah es der Koran. So sah es auch Uthman, der die Schriften in Cordoba studiert hatte. Wahrlich, dachte er, Jesus ist vor Allah wie Adam. Er erschuf ihn aus Erde, dann sprach er zu ihm: Sei! Und Adam war der erste Mensch.
Uthman blickte aus dem Fenster. Er sah Jesus de Burgos auf dem freien Platz vor dem Gasthaus umhergehen. Er wirkte gedankenverloren. Worüber grübelte er? Er ging mit unbedecktem Kopf und schien die heiße Sonne nicht zu bemerken.
Seine eigenen Gedanken nahmen Uthman wieder gefangen. Er wandte sich erneut der Schrift zu, die auf einem kleinen, wackligen Tisch lag. Uthman hatte die Blätter mit Steinen beschwert, damit die Windstöße, die manchmal durch die Fensteröffnungen kamen, sie nicht durcheinander wirbelten.
Nach seiner eigenen Überzeugung war kein Prophet je einer Sünde fähig gewesen. Alle Propheten waren muslimische Propheten, und alle waren ohne Schuld, es war egal, wie sie hießen. Ob Adam, Noah, Abraham, Jakob, Josef, Moses, Saul, David, Salomo, Hiob, Hesekiel, Jonas, Johannes der
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