Das neue Evangelium
in den Kämpfen zwischen Sunniten und Schiiten noch zu Lebzeiten Aischas umsonst gestorben?
Aber das konnte niemals geschehen! Es war undenkbar!
Uthman fühlte sich noch einen Augenblick lang unbehaglich. Nein, etwas Derartiges durfte nicht geschehen und würde nicht geschehen!
Und doch musste er jetzt Henri eine ähnliche Nachricht überbringen!
Die vier Evangelien waren falsch! Sie hatten alle gelogen, die Jünger, die Apostel, die Evangelisten. Nur einer sagte die Wahrheit: Barnabas!
Nur fort aus diesem Kloster, von diesen Mönchen, dachte Ludolf von Suchen. Auch Jesus de Burgos wollte schnell fort. Sie hatten ihre Sachen gepackt und führten ihre Pferde hinaus. Draußen wartete Henri.
Noch immer wurden Zellen durchsucht. Es waren erregte Stimmen zu hören. Aber niemand stellte sich ihnen ernsthaft in den Weg. Henri schob einen Mönch, der ihn barsch zu Bruder Askenios vorlud, einfach mit dem Arm zur Seite. Einige Mönche beobachteten sie aus der Ferne. Die Gefährten nahmen die angespannte Stimmung wahr, die über dem Klostergelände lag. Dann hatten sie die Ställe erreicht und verließen das Barnabas-Kloster. Sie hatten es jetzt eilig, ohne es sich anmerken lassen zu dürfen.
Madeleine hatte sich ihnen angeschlossen. Die junge Frau bestand darauf, dass alle Gefährten zusammen waren, wenn sie ihnen ihre Entscheidung kundtat und ihre Gründe offen legte. Henri dankte ihr insgeheim dafür, dass sie die Gruppe nicht einfach so verließ. Sie wollte sich ehrenvoll verabschieden.
Henri musste an diesen Grimaud denken. Während sie in Richtung Enkomi ritten, vergegenwärtigte er sich noch einmal das Gespräch mit dem Fremden.
Hatte er nicht viel zu viel von sich preisgegeben? Wenn es Grimaud darauf angelegt hatte, Henri auszuhorchen, dann wusste er jetzt, dass Henri ein Templer gewesen war.
Henri versuchte, sich zu erinnern, was genau er gesagt hatte, als Grimaud dabei gewesen war. Die Satzfetzen, die er im Gedächtnis behalten hatte, schienen ihm verräterisch. In der Tat, wenn Grimaud ein Spitzel wäre, dann wusste er jetzt genug.
Aber er war kein Spitzel. Henri schaute zu Madeleine hinüber. Die junge Frau würde sich nicht mit einem Verräter abgeben. Er vertraute ihr.
Henri hatte nicht gesagt, wo sie in Enkomi abstiegen. Aber war diese Stadt so groß, dass man darin untertauchen konnte? Eventuelle Verfolger würden sie dort sicher finden. Henri beschloss, besonders vorsichtig zu sein. Er erzählte aber den anderen nichts von seinen Sorgen.
Zwei Stunden später trafen die Reisenden in Enkomi ein. Sie ließen sich von Sean in das Viertel führen, in dem Uthman wohnte.
Die Gassen waren erfüllt von Gerüchen, die aus Küchen und Kellern aufstiegen, überall wurde das Mittagessen zubereitet. Es war eine lebendige Stadt mit offenen Türen und Fenstern. Selbst die Tiere hielt man nicht davon ab, von der Straße in die Häuser zu wechseln. Henri fühlte sich einen Moment lang wohl.
Der Gasthof, in dem Uthman abgestiegen war, lag am Stadtrand in einem Palmenhain. Es gab dort genug freie Zimmer für die Ankommenden. Dort warteten sie auf den Abend, an dem Madeleine ihnen erklären wollte, was sie vorhatte.
Zu dieser Jahreszeit gab es auf der Insel keine langen Übergänge vom Hellen ins Dunkle. Die Sonne versank wie ein roter Stein hinter dem Horizont. Man wollte sich zum Abendessen in der Gaststube treffen.
Aber dann überstürzten sich mit einem Mal die Ereignisse. Plötzlich verlief nichts mehr so, wie die Gefährten es erwartet hatten.
Jean Grimaud triumphierte innerlich. Er wähnte sich am Ziel. Die junge Frau war schon fast erobert. Es fehlte nicht mehr viel, und er konnte eine weitere Kerbe am Griff seines Schwertes anbringen.
Grimaud traf seine Vorkehrungen.
Er schrieb eine Depesche nach Lapethos an den französischen Statthalter. Dann eine zweite nach Nikosia. Man musste einen Boten per Schiff nach Paris entsenden. Aber er konnte die Antwort nicht abwarten, wenn sie kam, musste er längst gehandelt haben.
Der letzte Templer war bald gefasst! Der Mann würde keinen Widerstand leisten, denn er war mutlos und erschöpft. Und jetzt resignierte er vollkommen, denn sein Glaube schien ziemlich erschüttert zu sein. Er würde ein leichtes Opfer abgeben.
Grimaud war Christ, aber in erster Linie war er Büttel seines Staates, seines Königs, seines Statthalters im fremden Land. Ihm lag eine funktionierende Ordnung am Herzen. Und der Lohn, der seiner Arbeit folgte. Er würde alles
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