Das neue Evangelium
ignorierte man seine Beistandsgesuche. Der Aufmarsch vor unseren Toren ging bis zum Jahresende weiter. Auch als Sultan Kalawun starb, gerieten die Vorbereitungen nicht ins Stocken, sein Sohn al-Ashraf Khalil setzte sein Werk fort.«
»Ich glaube, Uthman kannte ihn«, warf Madeleine ein. »Er erzählte davon, dass er ihn nach dem Monat Ramadan sogar im Haus seines Vaters kennen lernte, als ein großes Fest gegeben wurde. Kann das dieser Khalil gewesen sein? Ein starrköpfiger und finsterer Mann – aber ein großer Krieger!«
Henri nickte. »Auch mir erzählte Uthman davon. Unsere Feinde riefen den Dschihad aus, die Armee Khalils fand im ganzen Land Zulauf und setzte sich von allen Seiten her nach Akkon in Bewegung. Im April des darauf folgenden Jahres waren die Vorbereitungen beendet, es begann die Belagerung vor unseren Zinnen. Wir waren gerüstet und hofften auf Verstärkung aus Zypern, wo unser Orden vier große Häuser und drei große Burgen besaß. Zypern war ein wichtiger Stützpunkt. Aber die Verstärkung kam nicht. Die paar tausend kampffähigen Männer in der Stadt, geführt von siebenhundert Templern und Hospitalitern, standen Hunderttausenden von Sarazenen gegenüber. Und der Flüchtlingsstrom nach Akkon riss nicht ab. Wie sollten die mehr als hunderttausend Flüchtlinge ernährt werden, wenn rings um die Stadtmauern Feinde lauerten? Noch ging der Handel über das freie Meer weiter, aber wie lange noch?«
»Eine verzweifelte Lage!«, sagte Ludolf leise.
»Das war sie! Schlimmer war es noch dadurch, dass König Heinrich der Zweite nicht bei uns war. Er hielt den Kampf für verloren und war schon in die Heimat aufgebrochen. Uns fehlte das Oberkommando.«
»Wer führte euch stattdessen?«, fragte Jesus, der den Fall von Akkon nicht erlebt hatte.
»Es waren sechs Männer, die die Verantwortung trugen. Jean de Grailly kommandierte die französischen Linien, Otton de Grandson die englischen. Wir Templer gehorchten unserem Großmeister Guillaume de Beaujeu, die Hospitaliter ihrem Führer Jean de Villiers. Dazu kamen noch die Führer des Ordens von St. Thomas und des Lazarusordens. Unsere Führer benötigten eine besondere Taktik, um gegen die Überzahl der Feinde bestehen zu können, die allein zweiundsiebzig durchschlagskräftige Belagerungsmaschinen besaßen. Die Unsrigen öffneten die Stadttore…«
»Wie? Warum denn das?«, fragte Jesus überrascht.
»Man hoffte, dort die eindringenden Feinde am besten bekämpfen zu können. Und das ging auch eine Zeit lang sehr gut. Viele Angreifer wurden an den engen Eingangstoren niedergemetzelt. Nachts brachen sogar Stoßtrupps auf, die im Lager der Araber großes Unheil anrichteten. Hinter dem Hauptlager der Sarazenen lagen allerdings in noch größerer Anzahl die Heere der Mamelucken, das waren gefährliche, todesmutige Krieger, einstige Kampfsklaven, die inzwischen freie Soldaten waren. Diese Mamelucken begannen im Mai mit dem Generalangriff gegen den inneren Wall von Akkon. Sie eroberten den Königsturm und den Turm der Verdammten und drangen in die engen Straßen der Altstadt ein. Dort, wo die Pisaner ihr Viertel hatten, wüteten sie grausam.«
»Ich spüre förmlich die Schreie, die Angst, die Gewalt, den Tod«, seufzte Madeleine.
Henri nickte ihr zu. »In Höhe des Antoniustores warfen unsere Templer und die Brüder der Hospitaliter sich dem anstürmenden Feind entgegen. Es kam zum Häuserkampf, jeder Meter wurde grausam umkämpft. Dabei erwies sich unser Großmeister, Herr Guillaume, als besonders heldenmutig, er kämpfte an der Spitze, aber er wurde tödlich verwundet und starb kurze Zeit darauf in unserem Templerhaus.«
»Er soll noch einen ganzen Tag lang gelebt, aber kein Wort mehr gesprochen haben«, warf Ludolf ein. »Man erzählte es sogar auf der Seite der Sarazenen mit Anerkennung und Bewunderung. Die Muslime achteten Feinde, die zu sterben verstanden.«
»Das stimmt. Man begrub ihn vor seinem Tabernakel, dort, wo wir die Messe feierten. Wie schon gesagt, ich war damals nur Knappe, aber der Dienst bei meinem Herrn Richard bedeutete auch für mich, dass ich am Kampfgeschehen teilnahm. Und ich war dabei, als der Großmeister von vielen Händen ins Haus getragen und dort gebettet wurde. Am Abend, als Herr Guillaume starb, hatten die Muslime die Stadt eingenommen. Die Verteidiger der Stadt flüchteten zum Hafen, in der Hoffnung, sich nach Zypern einschiffen zu können. Wie erwähnt, war das Meer aufgewühlt, es war wie ein zorniges Gotteszeichen,
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