Das neue Evangelium
Lehre aus dem Fall Akkons?«, fragte Sean.
»Dass wir zu hochmütig und selbstsicher waren, um gewinnen zu können«, erwiderte Henri ohne Zögern. »Wir verstanden unsere Feinde nicht und wollten sie auch nicht verstehen. Also kannten wir auch nicht ihre Stärken. Wir verachteten sie. Das habe ich gelernt – man kann nur siegen, wenn man seine Feinde respektiert.«
»Aber haben unsere Richter uns das nicht später vorgeworfen?«, meinte Jesus. »Dass wir zu viel Wert darauf gelegt haben, unsere Feinde zu kennen und zu achten? Dass wir unsere Feinde im Heiligen Land ernst genommen haben?«
»So war es. Sie haben es eben nicht verstehen wollen. Außerdem nahmen unsere Richter alles zum Vorwand, um damit ihre Anklagen untermauern zu können. Sie wollten uns nicht verstehen, sie wollten uns vernichten.«
»Auch die Sarazenen hatten das begriffen«, sagte Ludolf. »Man muss seine Feinde fürchten – und ernst nehmen. Man muss ihre Motive verstehen, ihre Denkweise, man muss ihre Stärken und ihre Grenzen kennen. Nur so kann man sie bekämpfen.«
»Für unsere Ankläger in Paris hieß das nur, dass wir uns mit den Ungläubigen gemein zu machen versucht haben.«
»Aber das ist doch widersinnig!«, warf Madeleine ein. »Nach allem, was du erzählt hast, nach allem, was im Heiligen Land geschehen ist, können sie diesen Vorwurf doch nicht ernsthaft erhoben haben! Die geistlichen Ritterorden haben im Kampf geblutet und sind gestorben!«
»Und immer an vorderster Front«, ergänzte Henri. »Aber das wollten die Richter nicht hören. Das Urteil, das sie hätten finden sollen, stand eben vor dem Prozess bereits fest. Es waren Schauprozesse. Es ging nicht um die Wahrheit.«
»Ob man uns hier ebenfalls anklagen wird?«, wollte Sean wissen.
Henri zuckte die Schultern. Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht.
Sein Blick wanderte durch den Kerker. Eine Anklage fürchtete er nicht. Er fürchtete, dass sie in diesem Gefängnis ohne Anklage verderben mussten.
15
Anfang März 1320. Ammöchostos
Famagusta war eine uralte Stadt. Sie hatte eigentlich einen anderen Namen, aber den mochten die Einwohner nicht. Sie taten alles dafür, dass er nicht benutzt wurde, es stand sogar unter Strafe, ihn zu verwenden. Der verbotene Name war Ammöchostos. Er bedeutete »Die im Sand Versinkende«, und das erinnerte die Menschen an die ständige Gefahr, die der Stadt drohte.
Famagusta war auf unsicherem Boden erbaut, der Sand unter ihren Mauern mahlte und mahlte. Die Einwohner lebten damit, dass sie in den Straßen unversehens auf Sanddünen stießen, die am Abend noch nicht da gewesen waren. Hauseingänge wehten zu, hier und da schlängelten sich Sandvipern durch schattige Hinterhöfe, huschten Salamander durch enge Gassen, brachen unter Sandhaufen Scherenkrebse hervor, die wohl der Wind hergebracht hatte. Täglich entstanden neue Risse in Häusern und Palästen, manchmal stürzten Grundmauern ein. Und es kam vor, dass Einwohner urplötzlich im Boden und dann in den Tiefen unter der Stadt, dort, wo das alte Ammöchostos lag, verschwanden.
Die schöne Stadt Famagusta erinnerte sich lieber daran, wie sie nach dem Fall von Akkon zur Metropole des Ostens geworden war. Akkons Untergang war Famagustas Sternstunde gewesen. Und eine Metropole war sie bis heute.
Der Haupthafen der Levante war an diesem Tag im frühen März herausgeputzt. Reiche Kaufleute und Barone prozessierten durch die Stadt, die mehr Kirchen besaß, als das Jahr Tage hatte. Und ständig wurden neue Kirchen und Kapellen gebaut, römische, armenische und orthodoxe, und Ordenskirchen der Karmeliter, Hospitaliter und des deutschen Ordens.
Nur der Templerorden durfte keine Kirche errichten.
Die Reichen der Stadt spendeten Geld, machten Geschäfte mit den ehemaligen Feinden und veranstalteten regelmäßig Umzüge, um sich feiern zu lassen. Nichts sollte an den Untergang erinnern. Angesichts des Reichtums und der glänzenden Fassade der Stadt am Meer konnte man die Bedrohung durch die Natur vergessen.
Man stellte in langen Umzügen prächtige Kostüme zur Schau, ließ Pferde und Wagen schmücken, Mädchen tanzen, muskulöse Männer mit Stieren kämpfen und Musikanten aufspielen. Ochsen wurden am Spieß gebraten. Famagusta feierte, um nicht nachdenken zu müssen. In der lauten Musik erstarb allmählich die ständige Furcht.
So auch an diesem Tag.
Alle Barone der Umgebung zogen mit Wappen, Fahnen und Standarten in Wagen, die von edlen arabischen
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