Das neue Evangelium
schon drohten die Boote zu kentern. In einer stürmischen Nacht liefen wir nach Zypern aus und landeten Tage darauf in Famagusta.«
»Hatten unsere Templer denn keine eigene Flotte vor der Küste, die euch hätte aufnehmen können?«
»Nein, Jesus. Wir mussten uns meistens an Schiffseigner aus Venedig, Pisa oder Genua wenden und deren Schiffe für Transporte mieten oder kaufen. Die Hospitaliter entkamen auf zwei Barken, die sie zu einem weit draußen liegenden Segler aus Venedig brachten.«
»Wo war die Faucon, der gewaltige Falke, das legendäre Schiff des Templerordens?«, rief Sean aus.
»Die Faucon des Templers Roger de Flor«, sagte Jesus mit verklärtem Blick.
»Ja. Das Schiff hatte bereits Hunderte Bewohner Akkons übers Meer in Sicherheit gebracht«, sagte Henri. »Auch in die große Festung Château-Pélerin brachte der Falke die Menschen, bis die Festung fiel. So blieben nur die italienischen Schiffe, aber das war keine richtige Flotte, sondern nur ein versprengter Haufe von Handelsschiffen und Kaufmannsgaleeren, die weit draußen warteten. In den letzten Stunden leisteten nur noch zwei Galeeren aus Genua wirksame Hilfe, sie nahmen auch Arme an Bord, die nichts bezahlen konnten.«
»Wie bitte?«, rief Madeleine. »Nahmen die Schiffseigner denn Geld dafür, dass sie Menschen aus der gefallenen Stadt retteten? Waren das keine Christen?«
»Doch, es waren Christen«, sagte Henri. »Und sie nahmen Geld für die Rettung. Das ist gewiss nicht sehr ehrenhaft, aber sie waren immerhin zur Stelle, als es darum ging, Menschenleben zu retten. Die anderen hatten sich längst davongemacht.«
»Kein Ruhmesblatt«, meinte Jesus. »Aber mir steht es nicht zu, über solche Christenbrüder zu richten.«
»Mir gelang also die Flucht im allerletzten Moment«, erinnerte sich Henri. »Und ich kann in diesem Augenblick noch das Gefühl empfinden, das ich verspürte, als ich über den Rand des Bootes, das mit uns über die Wellen tanzte, zurückblickte. Ich sah an den Fenstern und auf den Zinnen noch Menschen stehen. Sie winkten. Es war wie ein Totentanz, groteske Bewegungen mit allen Gliedmaßen. Einige stürzten von oben herab, vielleicht hinausgestoßen von Feinden, die hinterrücks auf sie eindrangen. Später erfuhr ich, dass sich eine Hundertschaft von Templern noch einige Tage lang gehalten hatte, sie kämpften wahrlich heldenhaft. Aber es war aussichtslos – vielleicht hofften sie, dass doch noch Entsatz kommen würde. Es war ja das Gerücht umgegangen, aus Zypern würde ein neues Heer aufbrechen. Die Männer wurden aufgerieben, keiner entkam. Denn um sie herum war Feindesland, und sie hatten getötet, also durften sie nicht mit Erbarmen rechnen. Aber sie starben mit Anstand, wie es Templern gebührt.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, wie es ist, dem sicheren Tod ins Auge zu sehen und dennoch anständig zu bleiben und für seine Überzeugung zu kämpfen«, sagte Madeleine mit zitternder Stimme. »Das muss doch entsetzlich sein.«
»Dazu sind die Männer der geistlichen Ritterorden ausgebildet worden«, sagte Henri. »Ich glaube, sie dachten auch bis zuletzt nicht wirklich, dass sie verlieren konnten. Sie hatten grenzenloses Vertrauen in ihre Festung und glaubten auch, dass noch Hilfe von außen eintreffen würde. Das hatte sie der neue Großmeister, Thibaud Gaudin, glauben lassen, der aber Akkon auf einem venezianischen Handelsschiff verlassen hatte, als die Belagerung noch im vollen Gang war.«
»Es war eine fürchterliche Niederlage für unseren Orden«, meinte Jesus traurig. »Aber wir haben die Anzeichen der drohenden Gefahr eben nicht sehen wollen. Und wir haben uns überschätzt.«
»Das hat mir mein Freund Uthman schon in der Lombardei vorgeworfen, und auch später, auf unserer Überfahrt hierher. Er benutzte beinahe die gleichen Worte – unsere Arroganz, jedenfalls die unserer Führer, hat uns ins Unglück gestürzt.«
»Was wurde aus Thibaud?«, wollte Sean wissen.
»Der Großkomtur erreichte mit einem kleinen Trupp Sidon, dort lagerte eine Flotte. Man evakuierte die Stadt, die auch eingeschlossen worden war, und gemeinsam machte man sich auf den Weg nach Zypern. Das war das Ende unserer Tage im Heiligen Land. Zehn Jahre später gab es noch einmal Kämpfe auf der Insel Ruad im Fürstentum Antiochia, sie endeten mit unserer vollständigen Niederlage. Aber mit dem Fall von Akkon war unser Schicksal besiegelt. Wir Templer und auch die anderen Ritterorden hatten endgültig verloren.«
»Was war die
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