Das neue Evangelium
dieser Forderung an Grimaud!«, zischte Uthman wütend.
»Ihre Sachen liegen noch hier, ich habe alles zusammengepackt«, sagte der Wirt listig. »Wenn Ihr alles bezahlt, händige ich es Euch aus.«
»Du händigst es auch so aus! Es gehört den Gefangenen!«, entgegnete Uthman drohend.
Der Wirt zuckte zusammen. »Nun gut!«, sagte er. »Aber es wäre besser, Ihr bezahltet alles, sonst könnte es mir einfallen, zu den Bütteln zu gehen und sie darauf aufmerksam zu machen, dass Ihr noch auf freiem Fuß seid!«
Uthman fiel plötzlich das Evangelium ein. Er ließ den Wirt stehen und ging in sein Zimmer. Er fand alles unangetastet. Er packte seine wenigen Habseligkeiten zusammen, verstaute auch den Papyrus sorgfältig und ging wieder in die Gaststube.
»Ich zahle alles«, sagte er. »Aber wehe, du alarmierst die Büttel! Sei versichert, dann komme ich wieder und schicke dir die Höllenhunde auf den Pelz!«
»Aber mein Herr! Kommt, ich gebe Euch die Sachen!«
Uthman beglich die Rechnung. Dann packte er alles zusammen, holte die Pferde der Gefährten aus dem Stall und band sie zusammen. Keine Stunde später verließ er Enkomi und nahm den Weg nach Süden.
Für einen Moment dachte er an Joshua, der auf der Halbinsel Karpasia auf sie wartete. Wir kommen, und zwar alle zusammen, schwor sich Uthman grimmig. Ich hole sie aus dem Kerker. Und wenn es das Letzte ist, das ich tun kann.
Uthman wusste gleichzeitig, dass es beinahe unmöglich war, diesen Plan zu verwirklichen. Denn die Hafenstadt besaß die stärksten Festungsmauern der ganzen Insel. Und das Gefängnis in der Stadtburg lag vor der Küste auf einem Felsen. Von dort, so hatte ihm ein Fischer erzählt, war noch niemand geflohen.
Der Abend hatte sich herabgesenkt. Die Gefährten im Turm der Stadtburg hörten von draußen das Schreien von Möwen. Wind schien aufgekommen zu sein, denn salzige Luft drang durch die Fensteröffnungen in der Höhe. Sie litten unter Hunger und Durst. Vor allem der verletzte Sean und auch Madeleine litten darunter.
Niemand sprach. Worte waren in dieser Lage sinnlos.
Henri hatte sich schon einige Male in Gefangenschaft befunden. Aber so trostlos wie jetzt hatte er sich noch nie gefühlt. Das lag daran, dass er nicht allein war.
Allein in einem Kerker konnte man sein Schicksal auf sich nehmen. Man konnte sich eine Zeit lang mit Wut und Trauer aufrecht halten. Aber beim Anblick der Gefährten schaute Henri in die Fratze des Unheils und der Pein deutlicher denn je. In ihren Gesichtern zeichnete sich die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage ab. Er selbst konnte sterben. Aber wenn die anderen auch starben, dann war dies unerträglich.
Bei diesem Gedanken stöhnte Henri laut auf. Er hatte es selbst nicht gemerkt und hielt nun inne. Er wollte die Pein der anderen nicht noch verstärken. Deshalb entschloss er sich zu sprechen. Wenn jetzt noch irgendetwas sinnvoll war, dann waren es Worte, die beschwichtigten, auch wenn sie logen, wenn sie die Lüge verbreiteten, dass es doch noch Hoffnung gäbe.
»Wir werden uns befreien«, sagte Henri unsicher. Er räusperte sich und sprach jetzt klar, mit seiner wohltuenden, tiefen Stimme. »Unsere Feinde werden es nicht erleben, dass wir klein beigeben. Uthman ist in Freiheit. Und ich weiß, er wird keine Minute verstreichen lassen, die er für unsere Rettung nutzen kann. Hüten wir uns also davor, nur an unseren Durst und an unseren Hunger zu denken. Denken wir an Uthman. Beten wir, dass er in diesem Moment aufbricht, um uns zu helfen. Denn so aussichtslos alles auch aussieht, es gibt immer eine Möglichkeit. Uthman wird sie erkennen und nutzen.«
»Meinst du wirklich, Henri?«, fragte Madeleine leise.
»Ich bin ganz sicher, Madeleine!«, sagte Henri.
Sean war jetzt wach. »Herr Henri«, sagte er, »ich halte jedenfalls durch. Wir haben schon andere Gefahren überstanden, nicht wahr?«
»Ja, mein Junge! Sie kriegen uns nicht klein!«
»Erzähl uns noch etwas«, bat Sean. »Wenn ich deine Stimme höre, dann weiß ich, dass ich noch nicht tot bin.«
Henri blickte ihn erschüttert an. »Ja, mein Sean. Willst du eine besondere Geschichte hören? Vielleicht etwas Heiteres?«
Sean schüttelte den Kopf.
Henri blickte die Mitgefangenen an, auch sie sagten nichts. Henri sah zu den Fenstern auf. Plötzlich fiel ihm ein, wie er vom Fall der Stadt Akkon erzählt hatte. Aber war es die Wahrheit gewesen? Hatte nicht sein damaliger Zustand dazu geführt, dass er nicht alles gesehen hatte?
Akkon, dachte er. Du
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