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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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wunderbare Stadt. Auch dort habe ich das Meer gerochen, das ich jetzt in Gefangenschaft rieche. Auch dort war die Lage aussichtslos. Wir hatten alle bereits mit dem Leben abgeschlossen.
    Und doch sind wir davongekommen. Nicht alle, gewiss. Viele sind umgekommen. Aber ich lebe.
    Und wir werden auch diesen Kerker hier überleben!
    So viele Brüder kamen damals nach Zypern, dachte Henri. Wir liefen in Famagusta ein und versuchten, den Schrecken zu verarbeiten. Wir waren damals genauso verstummt wie heute. Die erste Zeit war schlimm gewesen.
    Wie war es damals wirklich gewesen?
    Was war geschehen?

 
    14
     
     
     
    Anfang März 1320. Die Wahrheit über Akkon
     
    »Ich habe euch schon einmal vom Ende Akkons erzählt«, begann Henri. »Aber damals waren mir zahlreiche Einzelheiten nicht so gegenwärtig wie jetzt. Hier, in diesem Turm, hingegen steht mir alles lebhaft vor Augen. Etwa, dass in den Tagen des Untergangs die See rau war und Stürme den Ozean peitschten, der Himmel war verfinstert und schwarze Wellen mit weißer Gischt behinderten die auslaufenden Schiffe. Viele, die sich zu retten versuchten, ertranken. Diese dunklen Bilder, die ich aus dem Gedächtnis verloren hatte, stehen mir jetzt wieder klar vor Augen. Ich wollte sie vergessen. Doch meine Betrübnis in unserer misslichen Lage ruft mir die schwarzen Tage von Akkon wieder deutlich in Erinnerung. Es ist wie ein Fenster in meiner Seele, das sich ungewollt öffnet und den Blick auf die dunkle Seite der Vergangenheit freigibt.«
    »Es ist seltsam, wie man manche Dinge vergisst und andere für immer erinnert, als wären sie erst gestern geschehen. Wichtiges geht verloren, Unwichtiges brennt sich in die Seele ein«, sagte Ludolf.
    »Manchmal ist es auch umgekehrt. In diesem Fall waren die Geschehnisse in Akkon so furchtbar und gleichzeitig so bedeutend für unseren Orden und für das ganze Abendland, dass ich zuerst alles vergaß, weil ich mich nicht daran erinnern wollte, jetzt jedoch alles ganz klar vor mir sehe!«
    »Erzähle uns davon, Henri, wir haben ja unfreiwillig viel Zeit.«
    »Wollt Ihr es wirklich hören, Jesus? Es ist nicht heiter.«
    »Unsere Situation ist auch nicht heiter«, sagte Jesus.
    »Daher sollten wir uns nicht mit Scherzen die Zeit vertreiben, sondern unsere Lage erträglicher machen, indem wir eine Geschichte über Not und Untergang hören. Es mag seltsam klingen, aber vielleicht schöpfen wir daraus Kraft für unsere Befreiung aus dieser Gefangenschaft, die nicht minder furchtbar ist, denn auch auf uns wartet der Tod!«
    »Sprich nicht so, Jesus«, sagte Madeleine zitternd. »Es gibt immer noch Hoffnung, nicht wahr?«
    »Auf jeden Fall!« Der verletzte Sean schrie es beinahe. Von draußen brüllte plötzlich eine raue Stimme ein Kommando, das ihnen galt.
    »Draußen sind tatsächlich Wachen«, sagte Ludolf. Er stand auf und trat an die Tür, er schrie durch die kleine, vergitterte Luke: »Gebt uns Wasser! Hier ist ein verletzter Junge!«
    »Maul halten«, schnauzte eine Stimme zurück.
    »Unmenschen!«, rief Ludolf. Er setzte sich wieder zu den Gefährten.
    »Gut«, sagte Henri, »ich habe euch aber gewarnt! Ihr werdet in die Fratze des Krieges schauen müssen, wenn ich alles erzähle.«
    »Wir kennen alle den Krieg«, meinte Jesus. »Er besitzt in dieser Zeit nicht mehr Schrecken als alles andere. Erzähle, Henri!«
    Henri lehnte sich zurück. Die Wand in seinem Rücken war kalt und feucht, die Steine spitz. Dadurch wurde ihm noch bewusster, dass er sich wieder einmal in Gefangenschaft befand. Aber dann stiegen die alten Bilder mächtig in ihm auf, sein Blick war fest auf die Vergangenheit gerichtet. Die Kerkermauern versanken, er sah die Türme und Spitzen der Stadt Akkon vor sich und dahinter das aufgewühlte Meer. Henri begann zu erzählen.
    »Unterbrecht mich ruhig, wenn ihr Fragen habt. Meine Stimme ist heute nicht so klar und laut, wenn ihr nicht alles versteht, fragt nach.
    Es war im Sommer des Jahres 1290. Der Anführer unserer damaligen Feinde, der Sarazenenführer Kalawun, entschloss sich zum Angriff auf Akkon, unsere letzte Bastion im Outremer. Jerusalem war gefallen. Wellen von Flüchtlingen trafen das ganze Jahr über in Akkon ein in der Hoffnung, von hier aus in die Heimat zurückfahren zu können. Kalawun wollte uns endgültig aus dem Heiligen Land vertreiben und mobilisierte alle Emire und alle Provinzen seines Reiches. Unser Großmeister des Tempels, Guillaume de Beaujeu, bat um Hilfe aus dem Abendland, aber dort

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