Das neue Evangelium
und wir fragten uns, ob der Herr mit uns zürnte und was wir falsch gemacht hatten. Viele ertranken, auch der Patriarch von Jerusalem. Drei unserer Anführer waren so schwer verletzt, dass sie getragen werden mussten. Wir Templer blieben in der Stadt, ebenso die Hospitaliter und ein versprengter Haufen des Deutschordens.«
»Obwohl die Stadt von den Feinden besetzt war?«
»Es war eine Sache der Ehre, dass wir bis zuletzt blieben, denn ohne unsere Tempelritter war die Bevölkerung völlig schutzlos, die Feinde hätten sie gnadenlos niedergemetzelt. Das hatte der Feind zumindest angekündigt, und wir glaubten es damals alle. In Wahrheit nahmen die Ungläubigen selten Rache an wehrlosen Bewohnern.«
»Die Türme der Hospitaliter und der Deutschordensritter fielen jedenfalls«, sagte Sean mit schwacher Stimme. »Und nur der eure blieb stehen, nicht wahr? So habe ich es nachgelesen.«
»Wir mussten uns nur zu drei Seiten verteidigen, mein Sean, denn unsere Komturei lag direkt an der Felsenküste. So konnten wir uns etwas länger halten.«
»Aber dennoch kam unaufhaltsam auch das Ende des Templerordens im Heiligen Land…«
»Ja, Jesus, es war tragisch. Männer, Frauen und die Kinder Akkons flüchteten sich in unser Haus. Es waren mehr als zehntausend Personen, die bei uns Zuflucht suchten, denn das Templerhaus war das am stärksten befestigte und so mächtig wie eine Burg, mit einem hohen Wehrturm am Eingang. Ich erinnere mich genau, wie dick die massiven Mauern waren, ich hielt sie damals für unbezwingbar.«
»Kam denn von See her kein Entsatz?«
»Wir blickten direkt auf den Hafen. Und mit Entsetzen sahen die Flüchtlinge und Eingeschlossenen, dass in diesem Moment alle Schiffe ausliefen. Es war ein dramatischer Moment. Denn das hieß, man gab uns verloren. Wir wurden allein gelassen, ganz auf uns gestellt, dem Feind ausgeliefert. Wir mussten kämpfen und untergehen…«
»Ich kann mir vorstellen, wie furchtbar dieser Moment für die Eingeschlossenen gewesen sein muss«, sagte Madeleine. »Ähnlich furchtbar, wie unsere Situation im Moment ist.«
»Die Templer begannen zu verhandeln«, erzählte Henri weiter. »Wir wollten eine geregelte Übergabe und gegenseitigen Respekt, unsere Leute mussten vor der Willkür der Sieger beschützt werden. Wir versuchten alles…«
»Sarazenen waren als Sieger nicht über Gebühr grausam«, meinte Ludolf. »Aber es war Krieg, auf beiden Seiten war unendlich viel Blut geflossen, der Hass trübte den Blick vieler.«
»Wir erreichten auch eine Vereinbarung mit al-Ashraf Khalil, die Flüchtlinge durften abziehen. Aber dann offenbarte sich ein entsetzliches Missverständnis. Die Mamelucken kannten den Inhalt dieser Vereinbarung nicht, sie überfielen Frauen in der Stadt und vergewaltigten sie. Sie begannen zu plündern, hilflose Alte zu ermorden und Junge in die Sklaverei zu entführen. Daraufhin schlossen unsere Templer die Tore und töteten alle Eindringlinge. Das Blut floss die engen Gassen hinunter. Wieder verhandelten wir mit Khalil, der Großmut bewies und erneut den freien Abzug unserer Flüchtlinge zusicherte. Daraufhin fasste unser Marschall, der angesehene Pierre de Sevry aus Burgund, der den Platz des Herrn Guillaume eingenommen hatte, Vertrauen, und bis auf wenige Tempelbrüder verließen wir den Turm, um uns zu stellen. Aber die Sarazenen trieben ein falsches Spiel. Sie verhafteten die Unsrigen und schlugen ihnen die Köpfe ab.«
Madeleine schrie leise auf. Sie schlug die Hände vor die Augen, als könnte sie verhindern, die Bilder zu sehen.
»Wie kamst du davon, Herr Henri?«, fragte Sean mit bangem Blick.
»Als wir von der Tötung der Unsrigen hörten, nahmen wir Zurückgebliebenen im Turm die Verteidigung wieder auf. Wir merkten aber bald, in welch aussichtsloser Lage wir uns befanden. Die Mamelucken hatten Stollen unter die Turmfundamente gegraben. Der Turm, obwohl nicht so klein wie dieser hier, sondern ein gigantisch aufragender Festungsturm, begann zu wanken und zu bröckeln. Und schließlich stürzte er ein. Nur wenige konnten sich retten, darunter war ich. Verteidiger und Angreifer starben gemeinsam unter den einstürzenden Mauern – das zumindest galt uns beinahe als ein Trost. Sie starben gemeinsam, niemand hatte einen Lohn. Nur die Hand voll, zu der ich gehörte, konnte in kleine Boote klettern und auf die zwei Galeeren aus Venedig steigen, die weit draußen außerhalb des Hafens noch immer ankerten. Wir erreichten die Galeeren mit letzter Kraft,
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