Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
Vom Netzwerk:
Pferden gezogen wurden, durch die Straßen.
    In der Nacht hatte wieder einmal die Erde gebebt. In den Straßen der Hafengegend zeigten sich Risse. Die Schiffe an den Piers gerieten heftig ins Schwanken. Sakristane hatten entdeckt, dass Fußböden in ihren Kirchen aufbrachen und darunter verborgene Krypten freilegten. Schicht für Schicht schien sich die Stadt ihre Vergangenheit zurückzuholen.
    Es war, als erinnerte die Natur daran, dass nichts noch so Glanzvolles Bestand haben würde.
    Der Hauptmann in der Uniform der französischen Armee ritt auf seinem stolzen Pferd durch die Straßen und blickte auf die Zeichen des Verfalls. Noch war die Fassade dieser Stadt von betörender Schönheit, aber wenn er genau hinsah, erblickte er die Risse in den Mauern. Der Hauptmann mied die Umzüge und Prozessionen. Er hatte ein Ziel, das er geradewegs ansteuerte.
    Hinter ihm ritt ein Stallknecht auf einem zweiten Pferd und zog am Zügel mehrere weitere hinter sich her. Der Stallknecht hatte es in der Nacht überall knacken gehört und dazwischen weitere seltsame Geräusche vernommen, ein mattes Schleifen, ein kraftloses Gleiten. Er wollte es nicht hören, aber er wusste nicht, wie er es vermeiden konnte. Er wusste, der Sand kam zurück.
    Die alte Stadt Ammöchostos, lange eingesperrt, klopfte an und wollte zurückkommen. Und niemand in Famagusta wusste, wie er das verhindern konnte.
    Der Stallknecht hatte das dem Hauptmann berichtet. Man lebte in diesen Tagen wirklich auf schwankendem Boden, und wer es sich leisten konnte, der lebte nun außerhalb der Stadt, bis die Eruptionen aus der Tiefe, bis die Sandattacken vorbei sein würden. Aber ob der Hauptmann das verstanden hatte? Er sprach kein Griechisch, nur Französisch. Die paar Brocken Französisch, die der Stallknecht beherrschte, mussten eben genügen, um die Sache in aller Dringlichkeit zu schildern.
    Der Hauptmann erreichte die Küste, blickte flüchtig auf das Meer und nahm die Stadtburg in Augenschein. Er verhielt einen Moment, saß dann ab, wies den Stallknecht an, mit den Pferden im Schutz eines Schatten spendenden Daches zu warten, auch dann noch, wenn die Stadt einzustürzen drohte. Er hatte also verstanden, was er ihm berichtet hatte, stellte der Stallknecht zufrieden fest.
    Der Hauptmann meinte es ernst, dies drückte jedenfalls seine Miene aus. Er musste überführte und verurteilte Verbrecher nach Lapethos bringen, von wo sie ins Abendland verbracht werden sollten. Die Verurteilten waren prominent, die Angelegenheit duldete keinen Aufschub.
    Der Hauptmann rückte seine Uniform zurecht. Eine Schulterkokarde hatte sich gelockert, der Knecht musste sie mit den Silberfäden festbinden, die von der Kokarde herunterhingen. Die andere Kokarde saß ohnehin schlecht auf der Schulter, so als sei die Uniform für einen anderen angefertigt worden. Dann ging der Hauptmann, der seinen Namen nicht genannt hatte, mit lauten Stiefelschritten über die hölzerne Brücke auf die Felseninsel zu, die das Gefängnis barg. Er schritt zum Tor der Burg.
    Als er die Glocke betätigt hatte und der Kopf eines Wachmannes in einer Luke erschien, hörte der Hauptmann hinter sich ein Getöse. Er drehte sich um. Irgendwo in einer der engen Gassen Famagustas wirbelte Staub auf, eine Fontäne aus feinem Sand, die sich um sich selbst drehte, stieg empor.
    Der Hauptmann sagte, welche Order er hatte, und forderte den Wachmann auf, sich zu beeilen.
    Der Wachmann im Dienst des französischen Statthalters von Famagusta blickte an ihm vorbei auf die Sandsäule in der Stadt. Er murmelte etwas, das wie ein Gebet klang. Dann schloss er das Tor auf.
    »Schaut euch das an!«, sagte der Wachhabende und deutete mit seiner Hellebarde auf die Sandsäule. »Jetzt geht das schon wieder los. Heute Nacht fing es an, das hat nichts Gutes zu bedeuten.«
    »Umso schneller muss unser Austausch vonstatten gehen, Kerl«, blaffte ihn der Hauptmann an. »Wenn sich die Eingekerkerten auch nur die kleinste Verletzung zuziehen, schlägt der französische König in Paris dir den Kopf ab. Und zwar eigenhändig!«
    »Ich beeile mich ja schon. Lasst mich nur das Tor schließen, damit kein Sand eindringt, denn dieser Sand, sage ich Euch, ist tückisch. Unser Haus ist in der Nacht von einer Wolke heißen Sandes überzogen worden, es war, als würde ein aufgerissenes, riesiges, dämonisches Maul direkt…«
    »Schneller, schneller! Allez! Vit, vit!«
    Der Wachmann ging voran. Der Hauptmann folgte ihm mit versteinertem Gesicht und

Weitere Kostenlose Bücher