Das neue Evangelium
wandte sich jedoch rasch wieder ab und trieb die Häftlinge zur Eile an.
Er ging selbst zu ihnen, blickte ihnen in die Augen und packte sie an den Armen, um ihnen aufzuhelfen. Als er dicht vor der Frau stand, hätte er sie beinahe heftig umarmt, aber er warnte sie noch einmal mit Blicken, sich nicht zu verraten. Der Junge war übel dran, aber er kam auf die Beine und konnte allein gehen, wenn auch gekrümmt und mit Schmerzen.
»Raus hier!«, rief der Hauptmann. »Folgt den Wachmännern. Oben werdet ihr in Ketten gelegt, damit ihr keine Dummheiten anstellt. Lasst euch nicht einfallen, Schwierigkeiten zu machen, sonst geht es euch schlecht.«
»Los, Pack!«, schrie ein Wachmann und stieß einen Gefangenen aus dem Verlies.
Die Häftlinge stolperten hinaus auf den Gang. Sie waren sehr geschwächt, und einer von ihnen, es hätte der Anführer sein können, wirkte apathisch. Er hatte den Blick gesenkt. Aber die anderen strafften sich, als ginge es in die Freiheit. Sie traten den Gang nach oben an.
Grimaud und seine Gardisten konnten endlich weiterreiten. Der letzte Prunkwagen bog um eine Ecke, und der Weg zur Stadtburg war frei.
Als sie sich gerade in Bewegung setzen wollten, hielt sie ein anderes Ereignis auf, und der Hauptmann konnte nicht umhin, sich damit zu befassen.
Ein Hausdiener kam die Straße heruntergelaufen und schrie nach den Bütteln. Als er die Soldaten sah, rannte er zu ihnen und keuchte mit fliegendem Atem:
»Schnell! In unserem Hausflur! So kommen Sie doch schon!«
»Was ist denn, wovon redest du, Geselle?«, fragte der Hauptmann, der sich nicht aufhalten lassen wollte.
»Ein Toter! Und er ist nackt! Die Mörder haben ihn völlig ausgezogen!«
»Was geht es mich an, Bursche! Lauf zu den Stadtbütteln im Rathaus!«
»Aber er ist einer von euch!«
»Was redest du da?«
»Ein französischer Soldat, wahrscheinlich ein Offizier, jedenfalls ein Franzose, man erkennt es an der seidenen Unterwäsche!«
»Dann ist er also doch nicht völlig nackt!«
»Nein, halb nackt! Neben ihm liegt noch das Stilett, mit dem man ihm den Hals durchbohrte. Überall Blut!«
»Zeig mir, wo das ist.«
»Auf dem Weg zur Stadtburg.«
Grimaud ließ sich den Toten zeigen. Er lag mit einer hässlich klaffenden Wunde in einem Hausflur. Sie mussten Hunde verscheuchen, die hier herumschnüffelten. Grimaud kannte den Toten nicht, aber der Hausdiener hatte Recht, das konnte nur ein französischer Soldat aus der zypriotischen Garde sein. Grimaud sah sich die Waffe genau an. Das Stilett trugen alle anderen Soldaten in seiner Schwadron auch.
»Verdammt!«, fluchte Grimaud. »Was ist hier los?«
»Die Stadt ist aus den Fugen geraten!«, jammerte der Hausdiener. »Das Untere wird nach oben gekehrt! Es kriecht aus allen Rissen an die Oberfläche!«
»Rede nicht herum! Du rufst jetzt sofort die Stadtbüttel, verstanden? Bis sie kommen, bleibt einer meiner Soldaten bei der Leiche. Ich kann mich darum nicht kümmern. Nun lauf schon!«
Grimaud kommandierte einen Gardisten ab. Dann setzte er sich an die Spitze des kleinen Trupps. Er hatte schon so viel Zeit verloren, dass er jetzt im Galopp durch die Stadt ritt. Er nahm keine Rücksicht mehr auf Passanten, er schrie alle an, zur Seite zu springen, und schlug sogar mit der Peitsche nach ihnen. Kurz darauf erreichten sie die Stadtburg.
Grimaud hatte den Vorfall in der Stadt schon vergessen. Für ihn kam es jetzt darauf an, sich um die Gefangenen zu kümmern. Er hatte sie zum Reden zu bringen, denn auf Zypern musste auch der allerletzte Templer aufgegriffen werden. Sein Befehl lautete, das Pack auszulöschen! Und nichts sollte danach noch an die Hunde erinnern.
Die Gefangenen folgten mit gesenkten Häuptern den beiden Wächtern. Am Schluss ging der französische Hauptmann, zu dem sich Madeleine jetzt umwandte. Aber sie durfte nicht stehen bleiben. Die anderen schoben sie voran. Sean rutschte auf dem feuchten Boden aus, aber Henri fing ihn rechtzeitig auf.
Sie kamen bis zur letzten Treppe vor dem ebenerdigen Trakt. Henri blickte noch immer mutlos vor sich hin. Madeleine verhielt sich seltsam aufgeregt, Henri nahm es in kurzen Phasen der Aufmerksamkeit wahr. Wozu die ganze Aufregung, wozu der Aufwand, sie zu verlegen! Es ging doch schon gar nicht mehr darum, ob sie in einem Gefängnis waren, ob sie in diesem oder in jenem Kerker darbten. Auch in Freiheit hätte Henri sich nicht mehr zurechtgefunden.
Denn nachdem er seinen Mithäftlingen die Wahrheit über den Fall
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