Das neue Evangelium
es Jesus de Burgos. »Es sind Aussprüche, die eindeutig gegen die Idee von der festen Burg Gottes gerichtet sind!«
»Ja. In weiteren Reden dehnen beide Prediger, Barnabas und auch Andreas, diese Haltung auf alle Kultstätten der Christenheit aus – der Höchste wohnt nicht in Häusern von Menschenhand, er wird niemals dort drinnen wohnen!«
»Eine Ohrfeige für die Kirche als Institution!«, befand Ludolf von Suchen. »Das ist Grund genug für die Papstkirche, diesen Barnabas als Ketzer zu bezeichnen.«
»Das taten sie gründlich«, sagte Joshua. »Aber das wisst ihr sicher besser als ich. Manchmal übernimmt Andreas wortwörtlich Passagen aus Predigten des Barnabas: So lässt der Himmelsgott sich denn auch nicht von Menschenhänden bedienen, als ob er jemandes bedürfte, da er ja selbst allem Leben und Odem gegeben hat.«
»Ist das nicht auch gegen das Judentum gerichtet, mit seinem Opferkult, seinen ausufernden Feiern, bei denen Gott in Gegenständen symbolisch dargestellt ist, ja sogar persönlich anwesend sein soll?«, wandte Uthman ein.
»Sehr richtig, mein Uthman«, erwiderte Joshua. »Aber dann wieder nähern sich beide stark dem Judentum an. Sie sagen: Gott verfolgt die Absicht, dass alle Menschen Gott suchen sollen, als ob sie ihn ertasten und finden könnten, und er ist ja auch nicht weit weg von einem jeden von uns. In ihm haben wir Leben und Bewegung und Sein, wie ja auch einige Schriftgelehrte gesagt haben, denn wir sind auch seines Geschlechtes. Das ist altjüdisches Denken!«
»Gott hat sich allen Menschen offenbart«, sagte Henri, »den Christen, den Juden, den Muslimen, den Heiden. Denn seine unsichtbaren Eigenschaften, seine ewige Kraft und Gottheit sind von der Weltschöpfung an natürlich in seinen Werken – sonst wäre Gott kraftlos. Wenn man nur alles aufmerksam betrachtet, erkennt man das.«
»Wir wollen die Diskussion nicht zu weit führen«, sagte Jesus. »Mich interessiert besonders, ob nach allem Gesagten Barnabas nicht doch der Autor des neuen Evangeliums sein könnte?«
»Paulus wendete sich von ihm ab, weil Barnabas plötzlich nicht mehr im christlichen Sinne predigte«, meinte Joshua. »Das könnte natürlich damit zusammenhängen, dass Barnabas – und auch Andreas – eine neue Sicht der Dinge vertraten. Hier in diesem Kloster, wo Barnabas zuallererst zu den Heiden predigte, fand er vielleicht ein neues Zentrum seines Denkens. Und das könnte für Christen unerträglich gewesen sein.«
»So bleiben die alten Rätsel bestehen«, sagte Henri. »Und wir haben den Fall doch nicht mit dem Verlassen des Barnabas-Klosters bei Enkomi abgeschlossen, wie wir alle hofften.«
»Im Gegenteil, es kommen neue Fragen hinzu«, sagte Jesus de Burgos.
»Ich hatte einen der Mönche des Klosters im Verdacht, den Papyrus geschrieben zu haben«, erklärte Uthman. »Der Mann wurde von seinen Mitbrüdern ermordet.«
»Es kann durchaus sein«, sagte Henri, »dass du Recht hast. Ich hoffe es sogar. Denn damit wären die Gefahren von unserem Glauben abgewendet, die drohten, wenn sich herausstellte, dass Barnabas tatsächlich schon im ersten Jahrhundert zu Ansichten gekommen ist, die die christliche Überlieferung in Frage stellen.«
»Aber etwas Seltsames muss damals geschehen sein«, sagte Joshua. »Sah Paulus den Barnabas nicht auffahren in den dritten Himmel und Dinge sehen, die niemand aussprechen darf? Was waren das für Dinge, von denen Paulus spricht? Seine Schriften sind überliefert. Und woher weiß er, was Barnabas im dritten Himmel widerfuhr?«
»Es geht um eine Augenzeugenschaft, die wir nicht verstehen – und die wir vielleicht auch nicht verstehen sollen«, sagte Uthman. »Auch im Koran sind bestimmte Dinge ganz bewusst rätselhaft gehalten.«
»Danach wendete sich Paulus jedenfalls von Barnabas ab«, sagte Henri nachdenklich. »Das alles ist nicht wirklich nachzuvollziehen.«
»Ich denke, wir werden es nicht klären können«, sagte Ludolf. »Vielleicht sollen wir es auch gar nicht. Wir sollten am besten alles so belassen, wie es war. Denn sind die Erzählungen der Evangelien nicht wunderbar?«
»Ich glaube sowieso weiter an sie!«, sagte Sean. »Komme, was da wolle! Ich habe ja bei meinem Herrn Henri erlebt, wohin es führt, wenn man zweifelt! Es war schauerlich!«
Alle lachten.
»Ich werde mich von dem Papyrus trennen«, kündigte Uthman an. »Ich lasse ihn hier in diesem Kloster. Denn an welchem Ort wäre er besser aufgehoben? Ich gebe ihn Barnabas und Andreas zurück.
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