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Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Titel: Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz , Kai Schreiber
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oder ein Mythos. Um die Kistenmetapher noch einmal zu verwenden – für den Eternalisten sind alle Kisten schon gefüllt, und wir können daran nichts ändern. Das bestätigt übrigens auch der eingangs zitierte Superwissenschaftler de Selby: «Aber die Zeit ist ein Plenum, unbeweglich, unwandelbar, unvermeidlich, unwiderruflich, ein Zustand absoluter Stockung. Die Zeit vergeht nicht.»
    In diesem Zusammenhang wird auch darüber diskutiert, auf welche Weise Objekte in der Zeit ausgedehnt sein können. Die einen sagen, dass Ausdehnung in der Zeit genauso funktioniert wie im Raum. Ein Fahrrad zum Beispiel nimmt einen bestimmten Platz in Anspruch. Steht es in einer Haustür, befindet sich ein Teil von ihm, sagen wir das Hinterrad, vor dem Haus, der Rest im Haus. Analog dazu gibt es zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht das ganze Fahrrad, sondern nur einen Teil von ihm – einen zeitlichen Teil, nicht einen räumlichen. Für Anhänger dieser Sichtweise ist das Fahrrad und jedes andere physikalische Objekt ein vierdimensionaler Raum-Zeit-Wurm, der aus verschiedenen räumlichen und zeitlichen Teilen besteht. Unsere Welt wäre ein Knäuel aus ineinander verschlungenen Würmern. Andere Philosophen wiederum behaupten, das Fahrrad schaffe es irgendwie, zu jedem Zeitpunkt als Ganzes zu existieren, was der Zeit im Vergleich zu den drei Raumdimensionen einen Sonderstatus verschaffen würde. Wie in der Debatte Präsentismus versus Eternalismus geht es darum, ob die Zeit wirklich etwas Besonderes ist oder nur so aussieht und sich in Wahrheit nicht so anstellen soll.
    Zwischen den eben vorgestellten Polen der philosophischen Debatte findet man einen Zoo an ausgefeilten Meinungen zum Thema Zeit. Ein exotisches Tier in diesem Theorienzoo stammt vom englischen Metaphysiker John McTaggart, der im Jahr 1908 die Zeit gleich ganz abgeschafft hat. Kurz gesagt stört er sich daran, dass Zeit in sich selbst zu fließen scheint. Wenn man mit einem Boot einen Fluss befährt, dann bewegt man sich relativ zum feststehenden Ufer. Beim «Befahren» der Zeit jedoch bewegt man sich relativ zu Daten, die ebenfalls Teil der Zeit sind. Silvester 2010 zum Beispiel ist zunächst Zukunft, dann Gegenwart, dann Vergangenheit. Die Zeit ist ein Fluss und gleichzeitig dessen Ufer. Wie kann sich etwas in sich selbst bewegen?
    Diese Frage stellt jedenfalls der englische Physiker Paul Davies in seinem Buch «About Time», das sich fast ausschließlich der physikalischen Sicht auf die rätselhafte Zeit widmet. Die Physik hat sich seit Newtons Zeiten eine eternalistische Zeit zugelegt, also eine, die nicht fließt. Der «rote Punkt» der Gegenwart, an dem sich Zukünftiges in Vergangenes verwandelt, den gibt es im physikalischen Weltbild nicht. Physiker nennen das «Blockuniversum» – Zeit und dreidimensionaler Raum bilden einen unveränderlichen vierdimensionalen Block. Zeitpunkte sind so zu behandeln wie Orte – New York und London liegen genauso in der Raumzeit herum wie die Jahrtausendwende oder der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, wobei es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Vergangenem und Zukünftigem gibt. So weit sind sich die Physiker zumindest einig.
    Aber auch die Physik hat harte Kontroversen um das Wesen der Zeit auszustehen. Die vielleicht größte Schwierigkeit besteht darin, die Zeitvorstellung von Einsteins Relativitätstheorie mit dem Modell der Quantenmechanik zu vereinbaren. Diese beiden Theorien sind die Eckpfeiler des physikalischen Weltbildes, und doch liefern sie auf entscheidende Fragen, zum Beispiel auf die Frage nach dem Phänomen Zeit, unterschiedliche Antworten.
    Einstein kann sich zugutehalten, die Vorstellung einer absoluten Zeit aus der Welt geschafft zu haben. Vor Einstein war die physikalische Zeit ein zuverlässiger Taktgeber, sie lief überall gleich schnell ab, egal, was man anstellte. Wo man sich auch befand, eine unsichtbare und unkorrumpierbare Standuhr, die absolute Zeit, war schon da. (An dieser Stelle möge man uns verzeihen, dass wir vom Ablaufen der Zeit sprechen, natürlich läuft die Zeit in der Physik nicht ab, aber die Sprache macht es nicht einfach, das klar auszudrücken.) In Einsteins Relativitätstheorie jedoch hängt die Zeit davon ab, wie schnell man sich bewegt und ob man sich in der Nähe von sehr schweren Dingen, zum Beispiel Sternen, aufhält oder nicht. Seitdem kann man sich auf die Zeit nicht mehr verlassen.
    Diese Erkenntnis ist keineswegs nur ein theoretisches Hirngespinst. Uhren laufen

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