Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
beiden Seiten irgendein Nutzen gegenüberstehen. Was hat sich die Evolution dabei gedacht?
An dieser Stelle ein Wort der Warnung. Wahrscheinlich ist es nicht gut, zu oft angesichts von Brüsten, Elchgeweihen oder Badeschwämmen «Was hat sich die Evolution dabei wieder gedacht?» zu fragen, weil die Gefahr besteht, dass man irgendwann an seinen eigenen Scherz zu glauben beginnt. Denn die Evolution denkt sich überhaupt nichts bei ihrem Tun, sie lässt das Sinnlose genauso entstehen wie das Zweckmäßige, und es ist gar nicht so leicht, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Wenn Forscher sich zu den evolutionären Ursachen für Brüste äußern, gehen sie fast immer davon aus, dass Brüste in die Kategorie des Zweckmäßigen gehören, also eine Anpassung darstellen. Eine Anpassung ist eine erbliche Eigenschaft, die durch natürliche Auslese zustande kommt, weil sie zumindest zum Zeitpunkt ihrer Entstehung direkt oder indirekt die Chancen ihres Inhabers auf erfolgreiche Fortpflanzung erhöht. Was das genau bedeutet und welche Eigenschaften von Lebewesen als Anpassungen eingestuft werden sollen, ist allerdings umstrittener, als man annehmen könnte.
Den Aufkleber «Anpassungsleistung» darf keineswegs alles tragen, was in den letzten paar Milliarden Jahren auf der Erde entstanden ist. Der Bauchnabel ist einfach nur ein Nebeneffekt der Nabelschnur, etwa wie ein Gussgrat an einem technischen Produkt, und die Evolution stellt ihn in einer nach innen und in einer nach außen gewölbten Variante her, ohne dass das nach bisherigem Wissensstand etwas zu bedeuten hätte. Es kann vorkommen, dass so eine technisch bedingte Eigenschaft sich später als praktisch erweist. So ist es beispielsweise ganz günstig, dass die Einzelteile des Schädels beim Säugling noch nicht fest miteinander verwachsen sind, denn dadurch passt er leichter durch den engen Geburtskanal. Die Evolution musste diese Schädelnähte aber nicht extra erfinden, es gibt sie schon bei Tieren, die einfach nur aus einem Ei zu schlüpfen brauchen. Andere Eigenschaften entwickeln sich als Anpassung und werden später umgenutzt. Ein mögliches Beispiel ist der Schlaf, der einer Theorie zufolge anfangs nur dazu diente, Lebewesen nachts vor Schaden zu bewahren, und erst später Zusatzfunktionen übernahm (→Schlaf im «Lexikon des Unwissens»).
Es macht die Welt nicht einfacher, dass ein einzelnes Gen mehrere Eigenschaften beeinflussen kann und dass sich bestimmte Einzelheiten bei der Entwicklung von Lebewesen nicht ändern lassen, ohne andere gleich mit zu verstellen. Man kann eine Maus nicht einfach maßstabsgetreu auf Elefantenformat vergrößern. Sie wird schwerere Knochen bekommen, und ihr Stoffwechsel und ihr Herzschlag werden sich verlangsamen. In der Maus muss also außer der Angabe «Körpergröße» noch einiges andere umgebaut werden, und spätere Riesenmausforscher werden es schwer haben, herauszufinden, auf welchen dieser Faktoren die Evolution welche Art Druck ausgeübt hat.
Wenn man behaupten will, etwas sei eine evolutionäre Anpassung, genügt es also nicht, sich irgendeinen halbwegs plausiblen Zweck der Veränderung auszudenken. Ein paar Kriterien müssen erfüllt sein: Es muss erstens eine genetische Basis für das Phänomen geben, deren Einfluss auf den Fortpflanzungserfolg sich zweitens statistisch nachweisen lassen muss, drittens sollte es einen technischen Zusammenhang zwischen der Eigenschaft und dem Fortpflanzungserfolg geben, und viertens wäre es gut, wenn sich dieser Zusammenhang experimentell nachweisen ließe. Dazu verändert man entweder die zu untersuchende Eigenschaft oder die Umweltbedingungen und sieht nach, ob sich die erwarteten Folgen auch wirklich einstellen. Im Tierversuch ist das noch relativ einfach, häufig kleben Forscher zu diesem Zweck beispielsweise bunte Federn an Vögel und untersuchen dann deren Paarungserfolg. Beim Menschen aber ist der Nachweis so schwierig, dass es bisher selten gelungen ist, menschliche Eigenschaften zweifelsfrei als Anpassungsleistung zu identifizieren.
Das hat weder Wissenschaftler noch Laien daran gehindert, zu jeder menschlichen Eigenschaft oder Verhaltensweise eine Theorie hervorzubringen, die das Beobachtete zur evolutionären Anpassung erklärt. Die meisten dieser Erklärungen handeln von Männern als Ernährern und Beschützern, von monogamen Paarbindungen, die durch Attraktivität der Frau einerseits und gute Versorgung durch den Mann andererseits gefestigt werden, und vom höheren
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