Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
die Tatsache, dass eine Spiegelung im Kern der Sache steckt, erklärt auch, warum man grundsätzlich zwei Enantiomer-Formen unterscheidet. Spiegelt man ein Objekt nämlich zweimal, versetzt man es wieder in seinen Originalzustand zurück. Deswegen steht man sich in zwei im rechten Winkel zueinander stehenden Spiegeln, die zum Beispiel in einer Raumecke angebracht sind, nicht seitenverkehrt gegenüber, sondern richtig herum – wenn man das mit diesem Buch in der Hand tut, kann man statt des Buchs auch dessen Spiegelbild lesen (siehe auch →Links und rechts).
Damit man die beiden Enantiomere voneinander unterscheiden kann, wenn man ihnen mal auf einer Party über den Weg läuft, muss man ihnen Namen geben. Viele Menschen sagen ja auch zu sich selbst «Ich» und zu ihrem Spiegelbild «Spiegelbild». Für die Enantiomerbenennung gibt es mehrere Systeme, die alle ziemlich kompliziert sind und sich gegenseitig widersprechen. In all diesen Systemen gibt es zwei Formen von Molekülen, von denen die eine das Spiegelbild der anderen ist. Ein solches System haben wir gerade schon kennengelernt, es basiert auf der Drehung von polarisiertem Licht, und die beiden Enantiomere heißen dann rechts- und linksdrehend. Ein anderes System sortiert die Moleküle nach der geometrischen Konfiguration und Elementnummer der Atome darin. Die Enantiomere heißen in diesem System dann R oder S. Leider deckt sich diese Definition gar nicht mit der nach Drehrichtungen, sodass man aus der Drehrichtung von Molekülen nicht auf ihren R- oder S-Status schließen kann.
Die dritte Methode vergleicht den Aufbau der zu sortierenden Moleküle mit dem Aufbau von Glyzerinaldehyd, einem Einfachzucker. Die Zuordnung von Molekül zum Einfachzucker erfolgt dabei nach einer Methode, die wir hier getrost ignorieren können. L heißen dabei dann jedenfalls die Moleküle, deren zugeordnetes Zuckermolekül das Licht nach links dreht, D diejenigen, bei denen der Zucker rechtsdrehend ist, vom lateinischen dexter für rechts. Zur Vergrößerung der Verwirrung in diesem chemischen Babylon deckt sich diese Aufteilung in L und D wiederum nicht mit den beiden anderen Definitionen, sodass zum Beispiel die L-Milchsäure zwar einem linksdrehenden Zucker zugeordnet wird, selbst aber ein rechtsdrehendes Molekül ist. Was das genau für Wiedererkennung und den Smalltalk auf Enantiomerpartys bedeutet, lassen wir jetzt mal linksdrehend liegen und kommen stattdessen zurück zur Tatsache, dass es bei den meisten in der Natur vorkommenden organischen Substanzen viel mehr von der einen als von der anderen Sorte gibt. Das ist eigenartig, denn Enantiomere verhalten sich zwar unterschiedlich – zum Beispiel drehen sie polarisiertes Licht in verschiedene Richtungen –, aber diese Unterschiede spielen in den chemischen Reaktionen, bei denen die fraglichen Moleküle entstehen, kaum eine Rolle. Das bedeutet, dass selbst über sehr lange Zeiträume, zum Beispiel von einer Eiszeit zur nächsten oder vom Aussterben der Dinosaurier bis zum Erscheinen von Jurassic Park , aus einem Racemat (einem Gemisch, in dem beide Enantiomere zu gleichen Teilen enthalten sind) kein Nichtracemat werden wird. Leider gibt es für Nichtracemat kein herrliches Fremdwort, ein bedauerliches Versäumnis der Chemie.
An den unterschiedlichen chemischen Eigenschaften der beiden Varianten kann es also kaum liegen, dass viele Substanzen in der Biologie Nichtracemate sind. Eine plausible Erklärung beruht darauf, dass Enzyme, also Eiweiße, die gezielt den Ablauf bestimmter biochemischer Vorgänge beeinflussen, durchaus einen solchen stark asymmetrischen Einfluss haben können. Voraussetzung dafür ist, dass das Enzym selbst auch schon überwiegend in einer der beiden Spiegelformen vorkommt, weil ansonsten die gespiegelte Form des Enzyms ja auf die gespiegelte Form der Reaktion einwirken würde und im Ganzen wieder alles ausgewogen wäre. Das heißt leider, dass damit die Erklärung nur einen kausalen Schritt weiter zurückverschoben wurde, vom ursprünglichen Molekül auf ein Enzym. Aber diese Form des Schwarzer-Peter-Spiels lässt sich aus prinzipiellen Gründen nicht vermeiden. Was sich als Ursache für die beobachtete biologische Asymmetrie eignen soll, muss selbst ein asymmetrischer Vorgang sein, weil er aus einer symmetrischen Mischung eine asymmetrische machen muss. Eine asymmetrische chemische Reaktion zum Beispiel würde aber sofort die Frage aufwerfen, wodurch denn diese Asymmetrie nun wieder erklärt werden
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