Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
großen nicht. Aha, könnte man sagen, kriegen deshalb große Tiere vielleicht keinen Krebs? Leider befasst sich die Studie nur mit Nagetieren. Ob man auf ähnliche Weise auch das Walkrebsproblem erklären kann, sei dahingestellt. Interessant ist das Ergebnis allemal.
Möglicherweise liegt die Antwort nicht in der Entstehung des Krebses, sondern in seiner Wirkung, die entscheidend von der Größe und dem Wohnort des Tumors abhängt. Abgesehen davon, dass sie gesunde Zellen zerstören und dadurch irgendwann Organe davon abhalten, ihren ordnungsgemäßen Geschäften nachzugehen, erzeugen Tumore oft Platzprobleme im Körper. Wale haben zum einen sehr große Organe und zum anderen sehr viel Platz im Leib. Der Tumor muss daher erhebliche Ausmaße annehmen, um den Wal umzubringen. Über einen erbsengroßen Tumor, der für eine Maus tödlich sein kann, würde ein Wal nur lachen – oder das tun, was bei Walen dem Lachen entspricht.
Man könnte leichtfertig annehmen, dass bösartige Tumore einfach immer weiter wachsen, bis das Krankenhausbett wieder frei ist, aber das muss nicht unbedingt so sein. Vielleicht gilt das bis zu einer bestimmten Grenze, und dann hören sie mit dem Quatsch auf. Ein Problem, das für den wachsenden Tumor immer größer wird, ist die Versorgung mit Nährstoffen. Für alle seine Zellen muss er eine Infrastruktur aus Blutgefäßen aufbauen, so wie ein neues Industriegebiet auch nur funktioniert, wenn es eine Anbindung an das Straßen- oder Schienennetz hat. Um dieses Ziel zu erreichen, senden Tumorzellen Botschaften an das Zellinternet, die in Zellsprache ungefähr «Will mehr Blut!» lauten.
Der schon erwähnte John Nagy und seine Kollegen haben das Wachstum von Tumoren in aufwendigen Computermodellen simuliert. Sie stellten fest, dass ihre virtuellen Tumorzellen manchmal damit aufhörten, den Bau neuer Blutgefäße anzuregen, und sich lieber voll und ganz auf die Fortpflanzung konzentrierten. Es handelt sich dabei ganz klar um einen Fall von Betrug – dieser sogenannte Hypertumor will zwar immer weiter wachsen, aber den Preis nicht bezahlen. Er ernährt sich von den Blutgefäßen, die der restliche Tumor angelegt hat. Weil die normalen Tumorzellen so jedoch weniger Nährstoffe zur Verfügung haben, verhungert der gesamte Tumor irgendwann.
Nagy und Co. haben diesen Prozess für Tiere verschiedener Größe simuliert, unter anderem für Rehe, Menschen und Blauwale. Insgesamt sahen sie am Computer 1000 Tumoren pro Tierart beim Wachsen zu. Die Überraschung: Hypertumore tauchten häufiger bei großen Tieren auf als bei kleinen. Während die kleinen Kreaturen an ihrem Krebs zugrunde gingen, überlebten die meisten Wale – jedenfalls im Computermodell. Wenn sich das Modell auf die Wirklichkeit übertragen ließe, hätten Wale zwar immer wieder mal Krebs, aber sie würden daran nicht sterben. Oder anders ausgedrückt: Krebs wäre für Wale wirklich so was wie Schnupfen für uns. Sie haben dauernd Krebs, aber die Folgen sind harmlos, und wir bekommen nichts davon mit. Wir würden die Waltumore erst sehen, wenn wir eine größere Gruppe Wale regelmäßig zur Computertomographie schicken.
Eine Weile hielt sich das Gerücht, dass Haie überhaupt keinen Krebs kriegen. Das stimmt zwar nicht, es gibt anekdotische Berichte über Tumore bei Haien, genau wie bei so vielen anderen Tieren. Trotzdem schrieb der zwielichtige William Lane in den 1990er Jahren gleich zwei Bücher über das Nichtvorhandensein von Haikrebs, mit den originellen Titeln «Sharks Don’t Get Cancer» und «Sharks Still Don’t Get Cancer». Die Bücher wurden zu Bestsellern. Lane und andere fingen damit an, Haiknorpelpillen zur Krebstherapie zu verkaufen, und verdienten damit Millionen, obwohl es keinerlei ernsthafte Hinweise darauf gibt, dass die Pillen irgendwas gegen Krebs ausrichten. Für diesen vollkommenen Blödsinn wurden Millionen Haie getötet, was beweist, dass ein niedriges Krebsrisiko nicht immer nur Vorteile hat.
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Wissen
Bertie Wooster: «You bloody well are informed, Jeeves! Do you know everything?»
Jeeves: «I really don’t know, sir.»
P. G. Wodehouse: «Jeeves and Wooster»
Wenn man ein «Lexikon des Unwissens» schreibt beziehungsweise liest, dann geht man eigentlich davon aus, dass es zumindest eine klare Vorstellung davon gibt, was Wissen ist, was Unwissen ist und was beides voneinander unterscheidet. Leider ist das gar nicht so. Außerdem gibt es keinen Konsens darüber, ob der Mensch
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