Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
über Sinneswahrnehmungen belegen kann, etwa: «Ich habe den Nachbarn gesehen , als er den Hund spazieren führte.» Ganz wasserdicht ist das im konkreten Fall noch nicht, denn der Nachbar könnte sich einfach einen Hund ausgeliehen haben. Eventuell muss man zusätzliche Argumente bringen wie «Er hat seit Wochen darüber geredet, dass er sich einen Hund zulegen will, und es handelt sich offenbar um einen Welpen» oder irgendetwas ähnlich Überzeugendes. Alle diese Argumente bauen darauf auf, dass man die kognitiven Möglichkeiten des Menschen – die Sinneswahrnehmungen, die Fähigkeit, Wahrnehmungen und Erinnerungen ordentlich zu verknüpfen, sowie die Fähigkeit, rational zu schlussfolgern – für zuverlässige Instrumente hält, die es uns erlauben, Behauptungen über die Welt in Wissen zu verwandeln.
Leider sind unsere kognitiven Fähigkeiten gar nicht so toll. Jeder ist schon mal auf optische Täuschungen hereingefallen, also einfache Abbildungen, die unseren Augen etwas vorgaukeln, das gar nicht stimmt, vielleicht nicht gerade einen Hund. Davon abgesehen kennen Psychologen mittlerweile eine lange Liste von sogenannten kognitiven Verzerrungen (englisch: «cognitive biases»), also spezifischen Fehlfunktionen unserer Denkprozesse.
Nur ein paar Beispiele für solche Verzerrungen: Wir neigen dazu, aus anekdotischen Beobachtungen, im schlimmsten Fall aus einer einzigen Begebenheit, allgemeine Schlüsse zu ziehen. Schlimmer noch, selbst wenn wir ausreichend Daten zur Verfügung haben, neigen wir dazu, nur die zu berücksichtigen, die zu unseren Erwartungen passen. Auch unsere Fähigkeit, logisch zu schlussfolgern, ist nicht fehlerfrei; darauf weisen die vielen Fälle hin, in denen sich Philosophen gegenseitig vorwerfen, einen logischen Zirkelschluss fabriziert zu haben. Ein wenig exotischer, aber auch schön ist der sogenannte Spielerfehlschluss, der auf einem Missverständnis des Zufalls beruht: Wenn beim Würfeln lange Zeit keine 6 kam, dann behauptet man schon mal, dass es «jetzt aber endlich klappen muss» – obwohl es bei jedem Wurf exakt dieselbe Wahrscheinlichkeit auf eine 6 gibt, ganz egal, wie lange man würfelt (mehr dazu unter →Hot Hand).
Auch Philosophen haben keine Schwierigkeiten damit, einen auflaufen zu lassen, wenn man mit ein paar Begründungen für Behauptungen ankommt. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, ob der Begründungszwang irgendwann aufhört oder nicht. Im Hundebeispiel müsste man als Nächstes begründen, warum den Sinneswahrnehmungen zu trauen ist, und wenn man damit fertig ist, muss man diese neue Begründung begründen und so weiter. Ein Spielverderber könnte einfach immer weiter «Und warum glaubst du, das zu wissen?» fragen. Wenn diese Serie aus Begründungen aber niemals aufhört und sich nicht im Kreis drehen darf, dann, so könnte man sagen, ist auch die Behauptung mit dem Hund des Nachbarn nicht wirklich begründet.
Es gibt zwei Möglichkeiten, diesem Problem zu begegnen. Man könnte behaupten, dass es ein paar unbezweifelbare Tatsachen gibt, die man nicht mehr begründen muss, eine Art Fundament allen Wissens. Die Frage ist dann, was diese Tatsachen sind, auf die man alles Wissen zurückführen kann – wenig überraschend, dass darüber keine Einigkeit herrscht. Die naturwissenschaftliche Methodik bedient sich einer langen Liste grundlegender Annahmen, die innerhalb der Naturwissenschaften nie in Frage gestellt werden, zum Beispiel über →Mathematik und Logik. Nach Aristoteles geht alles Wissen zurück auf das Nichtwiderspruchsprinzip: Wenn eine Sache die Eigenschaft X hat, kann sie nicht gleichzeitig die Eigenschaft Y haben, die das Gegenteil von X ist. Zum Beispiel: Die Zahl 2 kann nicht gleichzeitig gerade und ungerade sein. Entweder hat der Nachbar einen neuen Hund oder nicht. Für Aristoteles ist dieses Prinzip unbegründbar und unbezweifelbar, wer es anzweifelt, mit dem sei nicht mehr zu reden, denn er sei nichts mehr als ein Gemüse. Aus verständlichen Gründen: Wer das Nichtwiderspruchsprinzip anzweifelt, muss seine Geltung bereits voraussetzen, weil er annimmt, dass es nicht zugleich wahr und falsch sein kann.
Gemüse hin oder her, es sieht erst mal nicht so überzeugend aus, wenn man an einer Stelle mit dem Zweifeln und Begründen aufhört und sagt, hier geht es nicht weiter. Eventuell hält sich nicht einmal die Natur an das Nichtwiderspruchsprinzip. Eine der absurden Folgerungen der Quantenmechanik lautet, dass zwei Eigenschaften, die einander
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