Das neue Philosophenportal
neoreligiöse »Metamorphose des Christentums« und damit als alten Wein
in neuen Schläuchen.
Der junge Karl Marx hingegen sah in Feuerbach eine wichtige Etappe in dem Bemühen, Hegels Philosophie umzudrehen und aus ihr
eine neue materialistische Interpretation der Wirklichkeit zu gewinnen. Was er bei Feuerbach jedoch vermisste, war das Verständnis
vom Menschen als einem Wesen, das sich diese Wirklichkeit durch Praxis, durch schöpferische Arbeit aneignet. Aus der Armut
und Unvollkommenheit des Menschen schloss Marx auf die Unvollkommenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, die es zu beseitigen
galt. Genau dies ist die Stoßrichtung seiner kritischen
Thesen über Feuerbach
, die in der berühmten 11. Feuerbachthese gipfeln: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden
interpretiert
, es kömmt drauf an, sie zu
verändern
.« In den Augen der Marxisten ist Feuerbachs
Wesen des Christentums
bis heute eine »materialistische Streitschrift« und das entscheidende Bindeglied zwischen Hegel und Marx geblieben, die Brücke,
auf der Marx das Land des historischen Materialismus erreichte.
Doch die Wirkung Feuerbachs ging weit darüber hinaus. Er wurde nicht nur zum Vater der modernen Religionskritik, sondern auchzu einem der großen Anreger eines »ganzheitlichen«, Körper und Geist umfassenden Verständnisses des Menschen. Unter den Musikern
gehörte Richard Wagner zu den Feuerbachianern, unter den Literaten waren es Gottfried Keller und die viktorianische Romanautorin
Marian Evans alias George Eliot, die ihre Übersetzung von
Das Wesen des Christentums
1854 unter dem Titel
The Essence of Christianity
veröffentlichte. Feuerbachs Auffassung vom Menschen hat u. a. die Philosophie Friedrich Nietzsches und die Psychoanalyse Sigmund Freuds beeinflusst. Freud setzte in seiner Schrift
Die Zukunft einer Illusion
das Feuerbach’sche Programm fort, den wahren menschlichen Charakter der Religion aufzudecken.
Auch wenn der Nachweis, dass der Gott der Religionen eine Projektion des menschlichen Selbstverständnisses ist, kein schlüssiger
Beweis für die Nicht-Existenz Gottes ist, hat Feuerbach doch umfassend wie kein Zweiter den Zusammenhang zwischen unseren
religiösen Vorstellungen und unserer menschlichen Lebenswelt aufgezeigt. Er hat uns die Augen dafür geöffnet, wie eng Diesseits
und Jenseits miteinander verschwistert sind, und die Menschen ermutigt, den Himmel auf die Erde zurückzuholen.
Ausgabe:
Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke 5: Das Wesen des Christentums. Herausgegeben von Wolfgang Harich und Werner Schuffenhauer.
Berlin: Akademie Verlag 2006.
Manifest für den aufrechten Gang
John Stuart Mill: Über die Freiheit (1859)
Nicht zu Unrecht haben viele Menschen ein Misstrauen gegen »große« Wörter. Sie werden häufig im Mund geführt, aber immer wieder
mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt. Es ist eine der Aufgaben der Philosophie, hier Klarheit zu schaffen und den »großen«
Wörtern einen vernünftigen Sinn zu geben. »Gerechtigkeit« ist ein solches Wort, das die Philosophen von Platon an bis in die
Gegenwart beschäftigt hat. Spätestens seitdem die Französische Revolution die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
erhoben hat, gehört auch die »Freiheit« zu jenen Begriffen, die uns zwar überall entgegenleuchten, aber immer eine andere
Farbe annehmen. Ist Freiheit etwas, das wir besitzen, oder etwas, das wir erwerben müssen? Und wovon sind wir frei, wenn wir
frei sind?
Kein Philosoph hat dies bisher klarer, verständlicher und überzeugender beantwortet als John Stuart Mill in seinem Essay
Über die Freiheit
. Für Mill ist »Freiheit« weit mehr als ein Schlagwort oder ein abstraktes Prinzip. Sie ist die Luft, die der Mensch zum Atmen
braucht, wenn er ein selbstbestimmtes Leben führen will. Sie ist der Raum, der ihm zusteht, um sein Leben in eigener Verantwortung
zu gestalten und seine Haltung öffentlich zu vertreten, ohne dass die Gesellschaft ihn in ein Netz von Konventionen steckt
und der Staat ihm einen Maulkorb anlegt.
Über die Freiheit
ist das philosophische Manifest für den aufrechten Gang, das Plädoyer für die Würde des Menschen, der nicht am Gängelband
geführt werden oder wie ein Schaf hinter der Herde hertrotten will.
Freiheit bedeutet für Mill konkrete, individuelle Freiheit. In dem ständig neu auftretenden Spannungs- und Konfliktverhältnis
zwischenIndividuum und Gesellschaft stellt sich Mill
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