Das Neue und seine Feinde - wie Ideen verhindert werden und wie sie sich trotzdem durchsetzen
Abteilung eine Tourenplanungssoftware entwickelten. Wir konnten dafür ein paar Kunden gewinnen, die mit uns arbeiten wollten. Wir gingen also mit einer Software in den Testbetrieb. Die Software verlangt die Information, welche Pakete der Ablieferungsdienst wohin bringen soll und welche Lastwagen dafür zur Verfügung stehen. Dann berechnet das Programm, welches Paket wann und wo in welcher Reihenfolge geliefert wird. Also los! Zuerst berechneten wir das Abholen von Milch bei den Bauern. Leider brauchte die Molkerei sehr viel mehr Zeit für die Touren, als wir berechnet hatten. Grund: Die Navi-Adresse der Bauernhöfe in Mecklenburg-Vorpommern liegt an der Landstraße! Aber in Wirklichkeit muss das Milchfahrzeug noch eine längere, wunderschöne Allee bis zum Hof fahren. Wir mussten die digitale Straßenkarte von Hand umändern. Der nächste Fall: Wir probierten, Wein abzuholen. Da stellte sich heraus, dass größere Fahrzeuge in den engen Moseldörfern steckenbleiben, weil sie nicht gut wenden können. Dann verteilten wir Tageszeitungen an Kioske. Zeitungen sind so furchtbar schwer, dass der Lastwagen nur halbhoch beladen werden darf. Unsere optimalen Touren waren dann aber sehr viel schlechter als die, die unser Anwender tatsächlich fuhr! Grund: Die Transportfirma belud den Lkw einfach mit viel mehr Zeitungen, als erlaubt war! Sie fuhren mit der Überladung vorsichtig zuerst zum Hauptbahnhof, luden richtig viel ab – dann stimmte es wieder. Wir berechneten das Verteilen von neuen Möbeln. Die Möbelspedition bezahlte den Fahrern als Prämie etwa 1 Prozent des Wertes für die ausgelieferten Möbel. Unsere Touren ergaben einen Krieg unter den Mitarbeitern. Es stellte sich heraus, dass manche so schlau waren, es hinzubekommen, nur Sessel auszuliefern! Und dieanderen mussten zum Beispiel Schränke aufbauen. Da Sessel viel, viel schneller hinzustellen sind, als man Schränke aufbauen kann, bekommen »Hinsteller« im Endeffekt viel mehr Prämie als »Aufbauer«! Unser Computer wusste nicht, dass das irgendwie geheim abgemacht war und berechnete stur das Optimum. Das führte zum Eklat. Noch ein Beispiel: Wir optimierten die Bierauslieferung an Gaststätten, die bei der Brauerei Fässer bestellt hatten. Das ist nicht einfach, weil manche Fässer so schwer sind und manche Gaststätten so verwinkelt hinterhöfig, dass
dann
ein Beifahrer erforderlich ist. Bei anderen Gaststätten aber reicht der Fahrer allein völlig aus. Wie plant man nun die Auslieferung? Es stellte sich schnell heraus, dass man gar keine Tourenplanung braucht, weil die meiste Zeit beim Ausliefern für das Kassieren des Gelds gebraucht wird – das bisschen Fahrzeit ist dann egal. Wir mussten nämlich lernen, dass Bierfässer immer in bar bezahlt werden müssen. Das wussten wir nicht. Warum in bar? Weil »die Hälfte der Gaststätten dauernd den Besitzer wechselt«. Verstanden. Aber warum dauert die Bargeldübergabe so lange? Sie verhandeln zu oft. »Bitte, ein Fass, nur ein einziges Fass, doch
einmal
auf Kredit!« Ja, und dann gibt es einzelne Fahrer, die der Hund mag, während er andere Fahrer »beißt«, also nicht hereinlässt. Und es gibt Fahrer, denen Kunden so sehr vertrauen, dass er die Schlüssel zum Laden bekommt. Dann kann
dieser
Fahrer (und nur dieser) die Tour schon vor Ladenöffnung beginnen …
So – jetzt habe ich Sie mit Problemen »zugetextet«, damit Sie eine schwache Ahnung bekommen, was alles passiert, wenn man »bloß« ein paar Aufträge auf Lastwagen verteilen soll. Eine einfache Software geht dann komplett »an der Realität vorbei«. Wir mussten erst ermitteln, bei welchen Kunden oder Problemstellungen unsere Software überhaupt brauchbar war. Das war eine harte, aber sehr interessante Lehrzeit.
Wenn wir an einer Universität gearbeitet hätten – woher hätten wir alles das erfahren können? Woher bekommt ein Forscher an einem Institut einer Universität diese tiefe Einsicht in die Realität? Sie wird ihm nur zuteil, wenn er sich, wie wir damals, sehr unternehmerisch mitten ins Leben stürzt. So weit gehen die meisten Wissenschaftler aber nicht. In der Regel zeigen sie ihre Software auf einer Messe. Da aber ist die Realität nicht! Die Kunden, die zuerst mit uns über unsere Tourenplanung redeten, wussten selbst gar nichts von den Lastwagenstaus vordem Innenstadtkaufhaus, von Fußgängerzonenverkehrsbeschränkungen, von bissigen Hunden und dem Wunsch aller Lkw-Fahrer, dass sich alle Touren zur Mittagszeit »zufällig« an
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