Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
Harry! Bewegung!«
Harrys Kopf fuhr hoch, und Aishe sah, dass er die Augen aufriss und seine Unterlippe zu zittern begann. » Mommiii«, heulte er auf. » Waaaarte!« Mühsam stand er auf, packte seinen Laster und rannte auf seinen kräftigen kurzen Beinchen so schnell er konnte den Weg entlang. Seine Mutter tappte ungeduldig mit dem Fuß, während sie auf ihn wartete, aber als er sie erreicht hatte, beugte sie sich zu ihm, umarmte ihn kurz und gab ihm einen Kuss.
Dann sah Aishe, dass Harry sich, während sie langsam die Straße hinuntergingen, den Laster unter den Arm klemmte und mit der freien Hand den Jackensaum seiner Mutter festhielt. Als die Frau es bemerkte, löste sie eine Hand vom Griff des Kinderwagens, schob ihn einhändig weiter und nahm ihren Sohn bei der Hand.
Zu ihrer Überraschung bemerkte Aishe, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie hatte nicht nah am Wasser gebaut– konnte sich nicht mal erinnern, wann sie das letzte Mal wirklich geweint hatte. Ich war kein Kind, dass bei Daddy angeheult kam, wenn ein anderes Kind gemein zu mir war, dachte sie. Ich war eines, was dem gemeinen Kind sofort eins ins Gesicht boxte. Ich habe auf alles mit Wut reagiert. Warum würde ich jetzt am liebsten weinen?
Die leise Stimme, das wahrscheinlich letzte Echo von Frank, sagte: Weil du weißt, das diese Zeit für immer vorbei ist. Die Zeit, als dein Sohn dich anbetete, dich bedingungslos über alles liebte. Als er noch ganz und gar dein war.
Ich werde niemals mehr so seine Hand halten, dachte Aishe. Und ich weiß nicht, ob ich das ertrage.
7
» Es kann doch wohl nicht so schwer sein, die Telefonnummer seiner Schwester aufzutreiben«, sagte Mo zu Darrell. » Schließlich ist sie nicht in einem gottverdammten Zeugenschutzprogramm!«
» Er gibt sein Bestes, Herrgott! Warum ist es denn so dringend?«
» Weil ich verzweifelt bin! Ich sehne mich nach Kontakt mit erwachsenen Menschen. Nach normalen, erwachsenen Menschen!«
» Ich dachte, du hättest eine Mutter-Kind-Gruppe gefunden?« Darrell runzelte die Stirn. » Sind die denn nicht normal?«
Mo lehnte sich vor und füllte bedrohlich Darrells Skype-Maske.
» Die sind alle blond. Ist das vielleicht normal? Nein! Ich komme mir vor wie in einem arischen Klonexperiment von Josef Mengele! Ihr Body-Mass-Index ist der eines Windhunds, den man verhungern lässt, weil seine Renntage vorbei sind. Sie fahren alle riesige SUV s und tragen nur Handtaschen von Kate Spade. Und jede hat ein Tattoo am Kreuzbein. Das weiß ich, weil bei ihrer Alltagskluft aus Yogahose und hautengem Trainingstop aus Biobaumwolle immer ein perfekt gebräunter Streifen nackter Haut zu sehen ist. Weißt du, was eine mir erzählt hat, woraus ihr Top ist? Aus einem Nebenprodukt von Tofu! Ein Top aus Tofu!«
» Sie sind also alle blond und dürr«, sagte Darrell, » was natürlich ärgerlich ist. Aber deshalb müssen sie doch noch lange nicht grässlich sein.«
Mo kniff die Augen zusammen. » Sie tragen Baseballkappen zu Pferdeschwänzen. Und zwar immer, draußen wie drinnen!«
» Sind sie grässlich oder nicht? Schweif nicht ab!«
Mo ließ sich in ihrem Stuhl zurücksinken und füllte plötzlich nicht mehr Darrells Bildschirm aus.
» Nein«, gab Mo zu. » Das ist ja das Problem! Sie sind alle so grässlich höflich!«
» Jetzt widersprichst du dir aber! Wieso ist das ein Problem?«
» Weil sie komisch höflich sind! Nicht echt!« Mo wedelte hilflos mit der Hand. » Ich weiß nicht. Von Anfang an haben sie mich behandelt, als wäre ich die Coolste auf der ganzen Welt. Ständig sagen sie so was wie ›dein Haar ist toll‹, ›ich liebe deinen Akzent‹ oder ›deine Kinder sind einfach hinreißend ‹. Ständig erzählen sie, wie toll es wäre, sich zu treffen, aber wenn man sie auf ein bestimmtes Datum festnageln will, kommen sie mit blödsinnigen Ausreden wie ›Ach, weißt du, im Moment ist einfach zu viel zu tun.‹ Und dann blenden sie einen mit ihren verdammten weißen Zähnen und sagen: ›Aber es wäre so toll! Ruf mich doch einfach mal an!‹ Da würd ich ihnen am liebsten eine knallen!«
» Meinst du nicht, das ist so ’ne kalifornische Marotte?«, fragte Darrell. » Kalifornier sind mir schon immer irgendwie etwas solipsistisch vorgekommen.«
» Die Frauen in Charlotte waren nicht so«, erwiderte Mo. » Ich war in einer großartigen Krabbelgruppe. Da wurde geflucht, gelästert und gesoffen– einfach herrlich. Aber vielleicht hab ich ja auch einfach nur Glück gehabt, denn
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