Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
dir sagen würde, mein Vater hätte in diesem Augenblick beschlossen, dass er auf mich als Sohn verzichten könnte, würdest du dir dann immer noch mehr Sorgen um den Hund machen?«
» Wieso hätte er so eine lächerlich drastische Entscheidung treffen sollen?«, fragte Aishe.
» Weil ich ein Versager war! Ich hatte ihn enttäuscht. Er konnte mir nicht trauen!«
» Du warst noch ein Kind!«
» Am nächsten Tag fand ich eine Waffe in meinem Zimmer«, sagte Benedict. » Sie lag ganz offen auf meinem Bücherregal.«
» Und?«
» Ich habe das als unmissverständliches Zeichen gedeutet, dass ich sie benutzen sollte.«
» Du warst zehn«, entgegnete Aishe. » Zehnjährige leben im Reich der Fantasie. Als Gulliver zehn war, glaubte er tatsächlich, in King’s Cross gäbe es ein Gleis neundreiviertel. Monatelang hat er mich angebettelt, mit ihm dorthin zu fahren.«
» Schön.« Benedict verschränkte die Arme. » Glaub doch, was du willst. Aber du kennst meinen Vater nicht. Du weißt nicht, wie er war.«
» So wie es sich anhört, war er ein mieser Bastard«, sagte Aishe. » Aber ich kann nicht ernsthaft glauben, dass er dich tot sehen wollte– seinen einzigen Sohn, um Himmels willen!«
» Tja, zumindest nicht für lange«, räumte Benedict grimmig ein. » Denn im darauffolgenden Monat habe ich beim Zulassungstest fürs Internat die höchste Punktzahl erzielt, die je erreicht worden war. Und von da an war ich der Star der Schule.«
» Du warst also wieder ein Gewinner.«
» Ja.«
» Aber das war nicht von Dauer?«
» In meinem letzten Schuljahr wurde ich in Oxford angenommen. Mein Vater war außer sich vor Begeisterung, denn in seinen Augen war das der Inbegriff des Triumphs. Ich packte die Koffer und stieg in den Zug. In Oxford stieg ich aus und nahm den nächsten Zug zurück nach London. Dort stieg ich in einen Billigflieger nach Frankfurt. Und war seither nie mehr in England. Seit zehn Jahren.«
» Und seitdem sucht er nach dir?« Aishe runzelte die Stirn. » Woher weißt du das?«
» Er geht nicht gerade unauffällig vor.«
» Und wenn er dich schnappt? Was passiert dann?«
Benedict warf ihr einen Blick zu, in dem Trotz und Verlegenheit lagen.
» Ach komm schon!«, sagte Aishe. » Im Ernst? Er würde dir eine Waffe an den Kopf halten?« Als Benedict nicht antwortete, schnaubte sie: » Du machst dir was vor! Ich sag’s noch einmal: Kein Vater will seinen einzigen Sohn umbringen. Das ist absurd!«
» Nicht, wenn Siegen das Einzige ist, was zählt.«
» Und dazu muss er dich loswerden? Ein toller Sieg!«
» Ich hab nie behauptet, daran sei irgendwas rational«, sagte Benedict, » aber glaub doch, was du willst.«
Sein Ton war kühl und distanziert. Aishe merkte, dass sie es zu weit getrieben hatte. Glücklicherweise wusste sie aus Erfahrung, dass sie ihn schon mit einem kleinen Zugeständnis wieder am Haken hätte.
» Hast du von ihm gehört, seit du hier bist?«, fragte sie.
Benedict zögerte. » Noch nicht.«
» Dann hat er vielleicht endlich aufgegeben.«
» Vielleicht.«
Einen Augenblick lang sagte keiner von ihnen etwas.
» Er hat ihn erschossen«, sagte Benedict. » Den Hund. Ich habe den Schuss gehört, als ich wegrannte.«
» Das war das Humanste«, sagte Aishe.
» Vielleicht. Aber ich weiß nicht, ob er ihn in den Kopf geschossen hat.«
Benedict verlagerte sein Gewicht. » Jetzt bist du dran.« Er drückte ihr einen Kuss aufs Schlüsselbein. » Erzähl mir von Frank.«
» Da gibt’s nicht viel zu erzählen.« Aishe riss sich das Laken bis zum Hals. » Ich hab ihn geheiratet. Er starb. Ende der Geschichte.«
» Du hast ihn geliebt.«
Aishe spürte, dass ihr die Worte im Hals stecken blieben. Aber sie hatte es versprochen, ihr blieb also keine Wahl. » Ja. Das habe ich.«
» Warum?«, fragte Benedict forschend. » Was hatte er, was all die anderen Männer in deinem Leben nicht hatten?«
Diese Frage hatte sich Aishe schon selbst unzählige Male gestellt. Was hatte ein enorm fetter Imbissbesitzer mittleren Alters, das– beispielsweise– ein junger, muskulöser, norwegischer Schlagzeuger nicht hatte? Wieso hätte sie glücklich den Rest ihres Lebens mit ihm verbracht, während sie sonst keiner länger als ein paar Monate halten konnte?
Sie sah Benedict an, dass er inbrünstig hoffte, es wäre etwas, das nicht weit außerhalb seiner eigenen Möglichkeiten lag– etwas, dass er ihr vielleicht auch bieten konnte.
Träum weiter, dachte Aishe. Du bist der Letzte, bei dem ich
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