Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
Mo. » Er bestand darauf, dass ich zu Hause bleibe, und wollte sich um mich kümmern. Aber ich habe mich durchgesetzt.«
» Du bist eine Irre«, sagte Mo. » Die Irre von Shalott.«
» Es heißt die Lady von Shalott«, bemerkte Connie. » Oder die Irre von Chaillot.«
Erneut lächelte sie traurig. » An jenem Abend kam ich mir wie beide vor. Verflucht und irre. Ich habe mich unter die Gäste gemischt und mit ihnen geplaudert und gelacht, als ob nichts wäre. Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe. Oder warum. Vielleicht wollte ich so tun, als wäre ich noch ein Mensch. Denn in Wahrheit spürte ich in mir nicht das Geringste. Keine Organe, keine Knochen, kein Blut. Nichts. Ich dachte, wenn mich jemand mit einem Messer von oben bis unten aufschlitzen würde, wäre ich hohl wie eine Schneiderpuppe. Der arme Phil«, fügte sie hinzu, » hat sich an diesem Abend kein bisschen amüsiert.«
» Der arme Phil, meine Fresse!«, sagte Mo. » Du warst arm! Das klingt ja wie die reinste Hölle!«
» Du hattest auch noch keine Fehlgeburt?«, fragte Aishe.
» Ich wollte schwanger werden und Kinder kriegen«, sagte Mo, » und genau das habe ich auch gemacht. Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass es nicht klappen könnte.«
» Mir schon«, sagte Aishe. » Und ein Abbruch auch. Für eine Millisekunde.«
» Meine Freundin denkt aber schon viel länger darüber nach«, sagte Mo. » Ich glaube, sie ist verrückt geworden.«
» Es ist ihre Entscheidung«, sagte Connie leise, » ganz gleich, wie sehr du es missbilligst.«
» Ganz ehrlich? Das halte ich für Quatsch!«, erwiderte Mo. » Es gibt im Grunde nur sehr wenige Entscheidungen, die ausschließlich uns selbst betreffen. Abnehmen, Sport treiben oder das Rauchen aufgeben– aber sogar das hat Einfluss auf die Menschen in unserer Umgebung: Sie können endlich wieder atmen. Aber ansonsten hat alles Auswirkungen auf andere. Schließlich ist Darrell nicht durch unbefleckte Empfängnis schwanger geworden. Wie kannst du also behaupten, es sei allein ihre Entscheidung?«
» Weil letzten Endes die Mutter die gesamte Verantwortung trägt«, antwortete Aishe. » Mit Ausnahme von Väterchen Frost ist die männliche Spezies nämlich verdammt unzuverlässig.«
Mo öffnete schon den Mund, um zu protestieren, klappte ihn dann aber wieder zu. Nach einer Weile sagte sie: » Aber bei Darrell ist der Vater noch da. Er ist zwar nicht gerade besonders dynamisch. Aber absolut zuverlässig.«
Aishe warf ihr einen Blick zu. » Er ist aber auch der Einzige, der dir einfällt, stimmt’s?«
» Mein Vater ist auch noch da«, sagte Connie. » Er bemüht sich nach Kräften, seine Enttäuschung zu verbergen, dass ich ihm keine Enkel schenke.«
» Ach, du meine Güte!« Aishe verzog missbilligend den Mund. » Im Ernst?«
Connie wandte sich zu Aishe und sah sie mit ihren großen, blauen Augen an. » Wie würdest du dich denn fühlen, wenn du wüsstest, dass deine Familie ausstirbt? Ich bin seine einzige Tochter. Nach mir kommt niemand mehr.«
Aishe blinzelte, sagte aber nichts. Connie sprach weiter.
» Unsere Sehnsucht nach einer Familie ist nicht nur eine soziale Norm, sondern ein instinktives Bedürfnis. Nach Zugehörigkeit. Nach Teilhabe im Kontinuum des Lebens– nach der Sicherheit, dass vor uns Menschen kamen und nach uns kommen werden. Das macht uns Menschen aus.«
Aishe sah zu Mo hinüber, die den Kopf schüttelte.
» Dazu gibt es nichts zu sagen«, bemerkte sie. » Glaub mir.«
Das Babyfon auf der Küchentheke knisterte, dann drang ein leiser, spitzer Schrei durch das statische Rauschen. Die drei Frauen verstummten und lauschten.
Nach einer Minute ohne weitere Geräusche lehnte sich Mo aufatmend in ihrem Stuhl zurück. » Fehlalarm. Sie schläft weiter, Gott sei Dank. Wahrscheinlich träumt sie davon, jemanden zu erstechen.«
» Als Gulliver noch ein Baby war, hatte er einen Stoffgorilla, der grunzte, wenn man ihm auf den Bauch drückte«, erzählte Aishe. » Eines Nachts hat er sich in seinem Bettchen daraufgerollt, und ich bekam fast einen Herzinfarkt, weil ich dachte, er hätte Keuchhusten oder so was.«
Mo schob ihren Stuhl zurück und stand auf. » Noch jemand Kaffee? Kuchen brauche ich euch ja wohl nicht anzubieten.«
» Ich nehme ein Stück«, sagte Aishe.
Als Mo sie verblüfft anstarrte, verzog Aishe den Mund. » Na und, verdammt noch mal? Kein Schwein kümmert’s, wenn ich fett werde!«
» Soll das etwa heißen, ich bin fett?« Mo füllte die Kaffeemaschine mit
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