Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
alt!«
Benedict richtete sich auf. » Ich bin nicht alt! Ich bin nicht mal dreißig!«
» Trotzdem doppelt so alt wie ich.«
» Achtzig ist alt!«
» Nein, das ist uralt«, widersprach Gulliver. » Das ist steinalt, fossilienalt, alt wie Methusalem! Dreißig ist einfach nur normal alt.«
Benedict kniff die Augen zusammen. » Dir ist schon klar, dass ich dich nur mit meinen zwei Daumen töten könnte, oder?«
Gulliver grinste. » You mad ?« , fragte er mit schmeichelnder Trollstimme.
Benedict atmete geräuschvoll aus, lehnte sich zurück und stützte sich mit den Ellbogen aufs Bett. » Ich frage mich, ob es für eine pädagogische Beziehung akzeptabel ist, dass sich unsere gesamte Unterhaltung nur um Computerspiel-Level und Memebases dreht.«
Mit dem Fuß ließ Gulliver langsam seinen Schreibtischstuhl hin und her rollen. Nach kurzem Schweigen sagte er: » Erzähl mir was von deinem Dad.«
Zuerst dachte Benedict, das ginge nicht. Gulliver war erst vierzehn. Aber in nahezu zehn Jahren hatte Benedict nur einem einzigen Menschen die Wahrheit über seinen Vater erzählt: Aishe. Und das war trotz ihrer Skepsis eine solche Erleichterung gewesen, dass Benedict nach Hause gegangen war und zwölf Stunden durchgeschlafen hatte. Erst am nächsten Morgen war ihm wieder eingefallen, dass sie ihm vorgeworfen hatte, kein ganzer Mann zu sein, und eine andere Last hatte sich auf seine Seele gelegt.
Dabei habe ich Aishe so gut wie gar nichts erzählt, dachte Benedict. Es gab noch so viele andere Geschichten– und soweit er wusste, konnten nur zwei Menschen auf der ganzen Welt sie erzählen: er und sein Vater. Er hatte es nie getan, und das Gleiche vermutete er bei seinem Vater, einem Mann, der lieber sterben würde, als eine Niederlage einzugestehen. Genauer gesagt: der lieber dafür sorgte, dass andere starben. Niemand durfte wissen, dass Reg Hardy alles andere war als ein Gewinner.
Gulliver ist zwar erst vierzehn, aber ziemlich reif für sein Alter, sagte sich Benedict. Er ist ein ungewöhnliches Kind, mit einer Mutter, die den meisten Menschen Todesangst einjagt. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Geschichten ihn überhaupt schockieren oder auch nur leicht erschrecken könnten.
Also fing Benedict an zu erzählen. Er erzählte Gulliver von dem Hund und der Waffe. Er erzählte ihm, wie er den Zug nach Oxford genommen hatte und dann buchstäblich auf den europäischen Kontinent geflohen war. Er erzählte ihm, wie er zum ersten Mal gemerkt hatte, dass sein Vater ihn verfolgte– an der Nachricht in jenem Backpacker-Hotel in Frankfurt, nicht mal eine Woche nach seiner Ankunft. Keine geschriebene Nachricht, nur die Cartoonzeichnung einer Pistole, aus deren Lauf eine Flagge mit dem Wort PENG ! ragte. Diese Nachricht sollte er noch viele Male bekommen. Normalerweise fand er sie an jedem seiner Aufenthaltsorte vor– auf seinem Kopfkissen oder zwischen den Seiten eines Buchs, das er gerade las. Einmal war sie in seine Jackentasche gestopft. Er hatte sie ausgezogen und in einen Spind gesperrt, bevor er seine Parkwächteruniform anzog. Als er seine Kappe aufsetzen wollte, merkte er, dass sie die falsche Größe hatte, und ging sie austauschen. Als er keine zwei Minuten später zurück war, steckte der Zettel in seiner Jackentasche.
» Was wollte er damit sagen?«, fragte Gulliver. » Worum ging es?«
» Ich glaube, um den Nervenkitzel der Jagd«, antwortete Benedict. » Ich denke, er genoss es, mich wie einen aufgeschreckten Hasen weglaufen zu sehen. Außerdem war es so einfach, mich aufzuspüren. Er musste nur rausfinden, welches Flugzeug ich nahm. Oder welches Schiff. Welchen Bus.«
» Hat er dich immer gefunden?«
» Einmal hatte ich Glück«, erzählte Benedict. » Bei einem Flugstreik in Spanien, und ich erwischte den letzten Flieger aus Barcelona. Danach gab es fünf Tage lang keine Flüge mehr. Ich landete in Schweden, und als ich einen Monat lang keine Nachricht bekam, habe ich wirklich geglaubt, er hätte aufgegeben. Ich fing sogar an, Gartenbau zu studieren. Hab’s aber nie abgeschlossen.«
» Wie hat er es gemacht?«, fragte Gulliver sich stirnrunzelnd. » Zum Beispiel Leute angeheuert, um dich zu verfolgen?«
» Ja. Hat ihn wahrscheinlich viel Geld gekostet. Aber das hatte er ja. Und viel Zeit.«
Gulliver kaute auf seiner Unterlippe.
» Was wäre passiert, wenn du aufgehört hättest wegzulaufen? Und ihm gegenübergetreten wärst? Ich meine, wenn er– oder einer seiner Schläger– nah genug an dich rankam,
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