Das Niebelungenlied
Tages. Dann erhob sich das Gefolge aus dem Gras und ritt zu den Zelten, wo die Gäste mit allem bedient wurden. Dort ruhten sie sich aus bis zum Morgen. Die von Pöchlarn bereiteten sich auf die Beherbergung der vornehmen Gäste vor; Rüedegêr sah darauf, daß es an nichts fehlte. Die Fensterläden und die Tore der Burg standen offen – die Gäste ritten ein. Rüedegêrs Tochter mit ihrem Gefolge ging Kriemhilt zum Empfang entgegen. Sie faßten sich an den Händen und gingenin einen großen reichgeschmückten Palast, unterhalb dessen die Donau dahinfloß. Sie saßen nahe dem Fenster bei allerhand Zerstreuungen. Was da noch weiter veranstaltet wurde, weiß ich nicht zu sagen. Kriemhilts Ritter waren unzufrieden, daß ihre Reise so langsam vorwärts ging, und so ritten sie wieder fort aus Pöchlarn. Der Markgraf war ihnen in allem gefällig. Die Königin schenkte seiner Tochter zwölf goldene Armreifen und das beste Kleid, das sie mitgebracht hatte. Da ihr der Nibelungenschatz entwendet worden war, stimmte sie sich doch jeden freundlich mit dem kleinen Vermögen, das sie noch besaß. Das Gesinde des Gastgebers wurde reich beschenkt. Dafür zeichnete wieder Gotelint ihre Gäste mit Gaben aus, so daß nur wenige von ihnen nicht Gotelints Edelsteine und Stoffe trugen. Als sie gegessen hatten und abreisen wollten, bot Gotelint Etzels Gemahlin ihre Dienste an. Ihre schöne Tochter sagte zu Kriemhilt: »Wenn es Euch gefällt, wird mein lieber Vater mich gern zu Euch nach Hunnenland schicken, das weiß ich«, und Kriemhilt sah, daß sie ihr ergeben war. Die Pferde wurden gesattelt und standen vor der Burg. Die Königin nahm Abschied von Rüedegêrs Frau und seiner Tochter, und auch die Mädchen trennten sich. Danach haben sie sich nicht wiedergesehen.
Die Bewohner von Melk brachten den Fremden Wein in goldenen Bechern an die Straße und bewillkommneten sie. Da herrschte ein Burgherr, der hieß Astolt. Er wies ihnen den Weg durch Österreich bis Mautern an der Donau entlang. Der Bischof verabschiedete sich von seiner Nichte und wünschte ihr von Herzen alles Gute und daß sie sich Ansehen erwerbe durch Freigebigkeit, wie Helche es getan hatte; und wie freigebig war sie dann bei den Hunnen! Die Männer Rüedegêrs brachten die Gäste bis zur Traisen, wo die Hunnen der Königin entgegenkamen und ihr alle Ehre erwiesen.
An der Traisen hatte der Hunnenkönig eine mächtige berühmte Burg, die hieß Traisenmauer. Dort hatte vorher Frau Helche in solchem Ansehen gelebt, wie es nur noch Kriemhilt zu erwerben verstand: Sie wußte nach all ihrem Leid Geschenke zu machen, daß die hunnischen Ritter ihre Großzügigkeit über die Maßen rühmten.
Etzels Herrschaft war so weithin berühmt, daß an seinem Hof die kühnsten Helden der Christenheit und aller Heiden lebten, die sich alle ihm angeschlossen hatten. Bei ihm lebten christlicher und heidnischer Glaube nebeneinander, und wozu auch einer sich bekannte: Etzels Freigebigkeit ließ keinen zu kurz kommen.
22 . WIE KRIEMHILT VON ETZEL EMPFANGEN WURDE
Sie hielt sich vier Tage lang in Traisenmauer auf. Die ganze Zeit legte der Staub sich nicht auf den Wegen, er stob allenthalben dahin wie eine Feuersbrunst: Etzels Ritter kamen durch Österreich geritten. Inzwischen hatte der König so viel erfahren von Kriemhilts herrlichem Zug durch die Länder, daß die Erwartung sein altes Leid verdrängte. Er eilte ihr entgegen, vor ihm waren Ritter von vielerlei Sprachen unterwegs in großen Scharen: Da kamen Russen und Griechen, Polen und Welsche auf ihren kräftigen schnellen Pferden. Von Kiew her kamen sie, und die Petschenegen 1 schossen die Vögel aus dem Flug, sie zogen die Pfeile ein bis zur äußersten Spannung des Bogens. In der österreichischen Stadt Tulln an der Donau erlebte Kriemhilt zum erstenmal die vielfältige Fremdartigkeit, die sie nie vorher gesehen hatte. Dort empfingen sie viele, denen sie später
Unglück brachte. Vor Etzel ritt in heiterer Stimmung ein stolzes Gefolge von vierundzwanzig vornehmen Fürsten, die sich auf den Anblick ihrer Herrin freuten. Herzog Râmunc aus Welschland kam mit siebenhundert Männern angaloppiert, sie stürmten einher wie fliegende Vögel. Fürst Gibeche kam mit herrlichen Scharen. Hornboge ritt mit tausend Mann von der Seite des Königs zu seiner Königin. Nach der Sitte des Landes erhob sich festliches Geschrei, die Hunnen turnierten eifrig. Hâwart von Dänemark kam heran, der makellose Îrinc, Irnfrit von Thüringen – die empfingen
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