Das Niebelungenlied
sagte Gîselher: »Warum verhaltet Ihr Euch so, Herr Rüedegêr? Alle meine Gefährten sind Euch wohlgesonnen. Ihr habt Schlimmes vor: Ihr werdet Eure schöne Tochter zu früh zur Witwe machen. Wenn Ihr mich angreift, wie sehr enttäuscht Ihr dann das Vertrauen, das ich in Euch mehr als in jeden anderen gesetzt habe, dessentwegen ich Eure Tochter zur Frau genommen habe.« – »Denkt an Eure Treue, wenn Gott Euch von hier wegkommen läßt«, sagte Rüedegêr. »Laßt das Mädchen nicht für meine Taten büßen. Seid Euch selbst zur Ehre nachsichtig mir ihr.« Gîselher antwortete: »Dennoch würde ich es mit Recht tun. Wenn Ihr meine Verwandten tötet, hört die Verwandtschaft zu Euch wie zu Eurer Tochter auf.« – »Nun kann nur Gott uns helfen«, sagte Rüedegêr. Sie hoben die Schilde auf und wollten den Kampf mit den Gästen aufnehmen. Da rief Hagen ihm die Treppe hinunter zu: »Wartet noch ein wenig, Rüedegêr. Meine Herren und ich haben noch mit Euch zu reden. Was kann Etzel unser Tod nützen? Ich bin in großer Sorge«, sagte Hagen weiter, »die Hunnen haben mir den Schild, den Frau Gotelint mir geschenkt hat, in der Hand zerschlagen; ich habe ihn in freundlicher Gesinnung hierher mitgebracht. Wollte Gott im Himmel, daß ich noch einmal einen so guten Schild bekäme, wie du ihn da in der Hand hast, dann brauchte ich weiter keine Schutzwaffe.« – »Ich würde dir gern mit meinem Schild helfen, wenn die Rücksicht auf Kriemhilt mir erlaubte, ihn dir zu geben. Aber nimm ihn hin, Hagen, und trage ihn; ach, wenn du ihn doch heimbringen würdest nach Burgund!« So mancher weinte, als er Hagen den Schild zum Geschenk reichte. Es war das letzte, was Rüedegêr vonPöchlarn einem Ritter gab. Und wie grimmig und hart Hagen war, auch ihn rührte das Geschenk, das Rüedegêr so kurz vor seinem Tod machte. »Gott vergelte es Euch, Rüedegêr. Es wird keinen Euresgleichen mehr geben, der die Männer so herrlich beschenkt. Gott gebe, daß solche Tugend, wie die Eure, nicht untergehe. Ich danke Euch damit, daß ich Euch nicht angreifen werde, wie diese Ritter hier auch immer sich verhalten werden, und wenn Ihr alle Burgunden töten solltet.« Rüedegêr verbeugte sich dankend vor ihm. Jedermann weinte, daß diesem tiefsten Schmerz kein Ende bereitet werden konnte. Der Inbegriff aller ritterlichen Vollkommenheit würde mit Rüedegêr sterben.
Und Volkêr sagte vom Haus herab: »Wenn mein Freund Hagen mit Euch Frieden geschlossen hat, werde auch ich ihn unverbrüchlich halten. Das habt Ihr Euch wahrlich verdient, als wir ins Land kamen. Edler Markgraf, Ihr sollt mein Bote sein. Diese goldenen Ringe hat mir die Gräfin gegeben, ich sollte sie hier beim Fest tragen. Seht sie Euch an und seid mein Zeuge.« – »Wollte Gott, daß die Gräfin Euch noch mehr geben könnte«, sagte Rüedegêr. »Ich will es ihr gern ausrichten, wenn ich sie lebend wiedersehe, dessen seid sicher.«
Als er das versprochen hatte, hob Rüedegêr den Schild auf, er zögerte nicht länger. In Kampfwut verfallen, lief er auf die Gäste zu wie ein Held und teilte viele schnelle Schläge aus. Volkêr und Hagen traten zurück, wie sie es ihm zugesichert hatten. Aber die an der Tür stehenblieben waren ebenso tapfer, so daß Rüedegêr den Kampf mit großer Sorge aufnahm. Gêrnôt und Gunther ließen ihn in mörderischer Absicht hereinkommen. Gîselher trat zurück, er konnte es nicht ertragen. Er hoffte noch, mit dem Leben davonzukommen, darum wich er Rüedegêr aus. Die Kriegerdes Markgrafen folgten ihrem Herrn, sie fielen mächtig über die Feinde her mit den scharfen Schwertern und zerschlugen viele Helme und Schilde. Aber die erschöpften Burgunden brachten den Pöchlarnern so manchen harten Schlag bei, ihre Schwerter senkten sich sicher und drangen tief durch die Panzer bis aufs Blut. Sie schlugen sich bewundernswert. Nun war das Gefolge Rüedegêrs ganz eingedrungen. Volkêr und Hagen sprangen ihm sofort entgegen, sie schonten niemand als den einen Mann. Unter ihren Händen strömte das Blut aus den Helmen. Die Schwerter tönten, die Schildbeschläge sprangen ab, die Edelsteine fielen zerbrochen zu Boden in die Blutlachen. Sie kämpften so wild, wie es heute keiner mehr tut. Der Herr von Pöchlarn ging kämpfend hin und wieder zurück durch den Saal wie einer, der seinen Mann im Kampf zu stehen weiß, und an diesem Tage zeigte er mit großer Kühnheit, daß er ein Held war. Da standen Gunther und Gêrnôt und schlugen viele Helden tot; Gîselher
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