Das Niebelungenlied
König entboten hat? Die Hitze quält mich so sehr mit Durst, daß mein Leben wohl bald zu Ende gehen wird.« Hagen von Tronege sagte: »Ihr Herren, wer unter dem Durst leidet, der mag Blut trinken. Das ist bei solcher Hitze noch besser als Wein, und besser können wir es jetzt nicht haben.« Da ging einer der Ritter zu einer Leiche und kniete an derWunde nieder; er band den Helm ab und begann das strömende Blut zu trinken. So wenig er es gewöhnt war, es schien ihm erfrischend. »Vergelt Euch Gott, Herr Hagen«, sagte der Erschöpfte, »daß ich mich auf Euren Rat hin habe satt trinken können. Mir hat der Wein selten besser geschmeckt.« Als die anderen hörten, daß es ihm gut bekam, mehrten sich die, die das Blut tranken. Jedermann gewann neue Kräfte. Das Feuer fiel unablässig auf sie. Sie lenkten es mit den Schilden von sich ab. Die Hitze und der Rauch setzten ihnen arg zu. Hagen sagte: »Tretet an die Wand, damit die Brände nicht auf euch fallen, stoßt sie mit den Füßen in die Blutlachen. Es ist ein grausiges Fest, das uns die Königin bereitet.« Bei allen diesen Leiden überstanden sie doch die Nacht. Hagen und der Spielmann standen wieder an der Tür über die Schilde gelehnt und waren neuen Unheils von den Hunnen gewärtig. Der Spielmann sagte: »Wir wollen in den Saal zurückgehen, dann glauben die Hunnen, daß wir alle ums Leben gekommen sind. Wir werden noch manchem im Kampf entgegentreten.« Gîselher sagte: »Ich glaube, es wird Tag, ein kühler Wind erhebt sich. Gott möge uns noch eine freundlichere Zeit schenken.« Ein anderer sagte: »Ich sehe den Tag schon. Es kann nicht besser werden, also waffnet euch, verteidigt euer Leben. Kriemhilt wird uns bald heimsuchen.«
Etzel glaubte, die Gäste seien in den Kämpfen und durch das Feuer umgekommen, aber sechshundert Krieger lebten noch. Die Wachposten hatten das genau bemerkt. Kriemhilt wurde berichtet, daß viele davongekommen seien. Die Königin meinte, das sei unmöglich. »Ich glaube sicher, daß sie alle tot sind.« Die Burgunden hätten sich noch erholen können, wenn ihnen Gnade gewährt worden wäre, aber die wurde ihnen von den Hunnen nicht zuteil. Da rächten sie ihren Tod selbst mit entschlossenem Kampf.Am Morgen wurden sie mit einem heftigen Angriff begrüßt. Die langen Speere flogen zu ihnen hinauf. Sie wehrten sich ritterlich. Etzels Leute waren zornig erregt, sie wollten Kriemhilts Belohnungen erringen und auch dem König gehorchen; darum kam mancher von ihnen zu Tode. Da wurden unerhörte Versprechen und Geschenke gemacht. Kriemhilt ließ Gold in Schilden herantragen und gab jedem davon, der etwas haben wollte. Niemand hat sich den Kampf gegen seine Feinde mehr kosten lassen. Eine große Anzahl bewaffneter Krieger war hinzugekommen.
Da sagte Volkêr: »Wir sind immer noch da. Ich habe keine Ritter lieber zum Kampf kommen sehen, als diese, die das Gold des Königs für unseren Verderb angenommen haben.« Die Burgunden riefen: »Näher heran. Laßt uns beizeiten tun, was wir zu Ende bringen müssen. Keiner wird auf dem Platz bleiben, der nicht doch noch sterben muß.« Bald staken ihre Schilde dicht voll mit Speeren. Was soll ich weiter erzählen? Zwölfhundert Mann setzten ihnen angreifend und zurückweichend zu. Die Fremden ermutigten sich an den Wunden, die sie schlugen. Es gab niemanden, der Frieden stiftete; darum floß das Blut aus tödlichen Wunden. Jeder beklagte den Verlust seiner Freunde. Die Tüchtigsten starben dem König alle dahin, und ihre Angehörigen trauerten schmerzlich um sie.
37 . WIE RÜEDEGÊR ERSCHLAGEN WURDE
Am Morgen hatten sich die Fremden tapfer gehalten. Als Rüedegêr zu Hofe kam, sah er die schweren Verluste auf beiden Seiten, und er weinte. »Wäre ich doch nie zur Welt gekommen«, sagte er. »Daß keiner diesem Jammer ein Ende bereiten kann! Wie gerne ich auch schlichten wollte, derKönig wird es nicht annehmen, weil sein Unglück ihm mehr und mehr deutlich wird.« Rüedegêr ließ Dietrîch fragen, ob sie es nicht für die Könige noch zum Guten wenden könnten. Dietrîch ließ ihm sagen: »Wer könnte hier einschreiten? Etzel wünscht nicht, daß jemand hier versöhnt.« Ein Hunne sah Rüedegêr weinen und sagte zu Kriemhilt: »Seht nur, wie er dasteht, der doch die größte Macht in Etzels Reich hat und dem Burgen und Leute untertan sind. Wie viele Burgen sind ihm überlassen, und wie viele kann er vom König noch bekommen. Er hat in diesen Kämpfen noch keinen Streich getan. Mir scheint, er
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