Das Nilpferd
Krankenhaus.«
Ich seufzte. Sie sprach weiter, immer noch schreibend.
»Warum ist Davids Kleidung wohl so durchnäßt? frage ich mich.«
»Es hat geregnet, Dr. Seyran. Es hat fast den ganzen Nachmittag geregnet. Oder ist Ihnen das nicht aufgefallen?«
»Doch, Mr. Lennox. Es ist mir aufgefallen. Bei solchem Wetter müssen wir mit schweren Unfällen immer sehr zügig verfahren, Mr. Lennox.« Langsam haßte ich es, wie sie den Namen immerzu wiederholte. »Aber kommen wir auf Ihre Geschichte zurück. Wenn ich recht verstehe, fand Davids kleines Mißgeschick in einem Badezimmer statt? Mit ein wenig gutem Willen kann ich nachvollziehen, warum er nach dem Unfall die Hose wechselt, aber warum er dann draußen im Regen herumsteht …«
»Ich mußte erst das Auto holen, oder? Hören Sie, was sollen diese Fragen? So etwas passiert doch wohl wirklich häufig genug …«
»Glücklicherweise kann ich Ihnen versichern, Mr. Lennox, daß es de facto angenehm selten vorkommt, daß ein Kind mit menschlichen Bißspuren am Penis in dieses Krankenhaus eingeliefert wird.«
»Ah.«
»Ja. Und es ist noch seltener, daß eine beschäftigte Unfallärztin sich genötigt sieht, Geschichten von Badezimmern, Urinieren, Reißverschlüssen und frischen Hosen zu lauschen, wenn auf den ersten Blick ersichtlich ist, daß die schlamm-, samen- und blutverschmierte Jeans und der hysterische Zustand des fraglichen Jungen eine ganz andere Geschichte erzählen.«
»Ah«, sagte ich, »nun …«
»Was diesen Fall noch seltener macht, ist die Tatsache, daß das Kind von einem Mann in die Notaufnahme gebracht wurde, den ich auf den ersten Blick als den Lyriker E. L. Wallace erkannte, der als seinen Namen aber bloß Edward Lennox angibt.«
»Ja, um Himmels willen, wenn Sie von Anfang an wußten, wer ich bin …«
»Dieser E. L. Wallace behauptet, der Vater des Jungen zu sein«, fuhr sie fort, »und als diese Erfindung als erstunken und erlogen entlarvt wird, will er mir weismachen, daß er ›natürlich‹ meinte, daß er in Wirklichkeit bloß der Patenonkel sei.«
»Was stimmt.«
»Ich glaube, Mr. Wallace«, sagte sie und bettete ihr Kinn in die Hände, »Sie sollten mir jetzt den Namen der wirklichen Eltern des Jungen verraten, meinen Sie nicht auch?«
Ich überhörte diese Bitte. »Ich möchte bitte mit Davey sprechen.«
»Ich glaube kaum, daß die Polizei es bei meinem Anruf gutheißen würde, wenn ich Ihnen das gestatte.«
»Die Polizei? Sind Sie vollkommen durchgeknallt? Was um alles in der Welt hat denn die Polizei damit zu tun?«
»Schreien Sie bitte nicht so, Mr. Wallace.«
»Tut mir leid, aber hören Sie …« Ich beugte mich vor und senkte die Stimme. »Okay. Reden wir wie erwachsene und reife Menschen von Welt, einverstanden? Ich gebe zu, daß die Geschichte mit dem Reißverschluß ein bißchen was von einer Notlüge hatte. Aber alles, was recht ist, bloß weil ein Liebespärchen mal Pech gehabt hat …«
»David ist fünfzehn Jahre alt, Mr. Wallace. Ich zweifle nicht daran, daß in der Welt der Bohemiens, in der Sie leben …«
»Ja, ja, ja. Ihre ranzigen, wiedergekäuten Vorstellungen über das Leben der Boheme lassen wir mal beiseite. Man muß der Jugend doch wohl das Experimentieren gestatten. Ich meine …«
»Ich habe selbst einen Jungen in Davids Alter, Mr. Wallace!«
»Nun, wenn es darum geht, Dr. Seyran, ich auch.«
Sie sah mich entgeistert an. »Sie auch?«
»Sicher. Und wenn ihm so etwas zustieße, glauben Sie, ich würde es an die große Glocke hängen? Natürlich nicht. Machen Sie ein Trara, und die
ganze
Sache gerät außer Rand und Band. Sie wissen doch, wie Jugendliche sind. Schuld, Ärger, Zorn, Aggression. Nein, nein. Bloß nicht aus so einer Mücke einen Elefanten machen. Das hat nichts mit Boheme zu tun, sondern mit gesundem Menschenverstand. Ich verbiete Ihnen definitiv, die Polizei da hineinzuziehen. Und mein Rat wäre, daß Sie auch die Eltern aus dem Spiel lassen. Wenn ich ihn jetzt bitte sehen könnte?«
Sie starrte mich mit großen Augen an, das Notizbuch längst vergessen.
»Also!« sagte sie endlich. »Ich muß schon sagen, allein für diese verdammte Chuzpe hätten Sie den ersten Preis verdient, Mr. Wallace. Das ist es wahrscheinlich, was man dichterische Freiheit nennt, ja?«
»Ja, zum Kuckuck!« Ich hatte die Schnauze langsam gestrichen voll von diesem steifbusigen Moralapostel. »Sie sind Ärztin, keine verdammte Sozialarbeiterin. Haben Sie da nicht diesen Eid, der Ihnen verbietet, das
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