Das Nilpferd
frühestens am Dienstag.
III
Swafford 28. VII. 92
Jane,
Katastrophe. Absolute, verfluchte Katastrophe. Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte, und ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll. Ich bin versucht, aus Swafford wegzurennen mit den schrillen Schreien »Flieht, flieht! Es ist alles aus!« auf den Lippen. Vielleicht kommt man meiner Flucht jedoch sowieso mit einem schleunigen, wilden Rauswurf zuvor. Die Drohung hängt über mir wie das Schwert des Damokles. Der war übrigens Grieche, also darf ich … wobei ich hinzufügen will: Was zum Teufel fällt Dir eigentlich ein, mir den Gebrauch lateinischer Wendungen zu verbieten? Zu den immer weniger Dingen, auf die man im Alter noch stolz sein kann, gehören:
A) eine buchstäbliche und übertragene Weitsichtigkeit, die einen entfernte Schulmädchen und entferntes Schulbubenlatein klar erkennen läßt,
B) Geringschätzung des Imagedenkens und der Meinungen anderer,
C) Respekt und Reverenz der Junioren (oder – falls dir das zu latinisierend ist – »die Hochachtung und Lehnstreue unseres Nachwuchses«).
So jedenfalls hatte ich Naivling mir das vorgestellt.
Ich schlage einen Deal vor: Ich laß das Latein bleiben, wenn du versprichst, NIE WIEDER Worte wie »etwas Besonderes« zu benutzen. Dank auch schön.
Und jetzt die Erklärung der Katastrophe.
Wie gut kennst Du Dich mit Computern aus? Wahrscheinlich sehr viel besser als ich. Die Maschine, an der ichgerade sitze, ist die erste, die ich je angefaßt habe. Für mich ist sie eigentlich nicht mehr als eine karrierebewußte Schreibmaschine. Sie gehört Simon und ist mit ihrem Drucker und einer einfach barocken Opulenz an Kabeln in mein Zimmer gebracht worden. Sie wohnt auf dem Schreibtisch und summt ähnlich gereizt wie der Maschinenraum eines U-Boots. Wenn ich sie einige Zeit nicht benutzt habe, erleidet ihr Bildschirm einen Anfall, und Fische in bunten Farben ziehen ruhig darüber hin und her, eine exzentrische Verschrobenheit, die mir komischerweise gefallen will. Mit dem Computer ist ein Gerät verbunden, das sich MAUS nennt, wohl weil es Quietschlaute von sich gibt, wenn man es packt und über eine harte Fläche schiebt.
Alles, was ich über die Bedienung von dem Ding weiß, ist, daß ich die ganze Zeit SPEICHERN muß. Dieser Aufhebungsbedarf hat nichts mit Dachböden zu tun, sondern verhindert angeblich, daß die Sachen, die ich gerade tippe, im Nichts verschwinden. Der gespeicherten Arbeit gibt man einen DATEINAMEN. Meine Briefe an Dich werden vom Computer in einem kleinen Umschlag auf dem Bildschirm aufbewahrt. Der Umschlag heißt TEDS MAPPE, und die Briefe heißen JANE.1 und JANE.2. Ich nenne sie vielleicht Briefe, aber der Computer nennt sie DATEIEN. Das ist ein eher unpassender Name, da sie nichts mit Dateien zu tun haben, aber das ist ja auch gehupft wie gesprungen. Hab Geduld. Ich komme langsam zur Sache.
Als ich mich heute morgen an den Computer gesetzt habe, um Dir das hier zu schreiben, entschloß ich mich, meinen letzten Brief an Dich noch einmal zu lesen, um mir seinen Inhalt wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die dazu erforderliche Prozedur ist verhältnismäßig einfach. Ich zeigemit der Maus auf die DATEI, die ich mir ansehen will, dann drücke ich zweimal schnell auf eine Taste am Kopf der Maus, und, als wär’s ein Wunderwerk der Technik, der Brieftext erscheint auf dem Bildschirm.
Während ich mich auf diesen Vorgang vorbereitete, merkte ich zum ersten Mal, daß in TEDS MAPPE auf dem Bildschirm neben dem DATEINAMEN jedes Dokuments noch eine ganze Reihe weiterer Informationen langweilig technischer Natur angezeigt wird: ZEICHENZAHL, DOKUMENTVORLAGE, TITEL, solche Sachen, denen dann Zahlen und abstruse Abkürzungen folgen. Außerdem gibt es zwei Spalten mit den Titeln »ERSTELLT« und »LETZTE ÄNDERUNG«. Mir wurde klar, daß diese Beschreibungen sich auf ZEITANGABEN beziehen. Mit anderen Worten, wenn du dir eine Datei bloß ansiehst, weißt du gleich, wann du sie zum ersten Mal geschrieben hast und wann du sie das letzte Mal verändert hast.
Und nun kommt’s. Ich habe entdeckt, das JANE.2, mein letzter Brief an Dich, angeblich »am 27. 07. 92 um 20.04« zuletzt geändert worden ist – also gestern abend um fünf nach acht. Nun weiß ich aber hundertprozentig, daß ich gestern abend um fünf nach acht mit Rebecca, Oliver und Max zum Aperitif in der Bibliothek Cocktails geschlürft habe. Außerdem weiß ich hundertprozentig, daß ich seit meiner Marathonsitzung
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