Das Nilpferd
vor Angst zu zittern.
»Es ist der Wundbrand, nicht wahr, Herr? Es ist der Wundbrand, und ich werde mein Bein verlieren! Ich weiß es, ich weiß es.«
»Ruhig, ruhig, du dummer Junge. Laß mal sehen.«
»Nein, nein! Es ist aus mit mir, es ist aus mit mir!«
Albert packte ihn bei den Schultern, sah ihm in die Augen und sagte: »Hör gut zu. Du mußt jetzt sehr ruhig sein. Du mußt langsam und tief durchatmen. Atme ganz langsam und ganz tief für mich.«
Benko versuchte zitternd zu gehorchen. Albert redete ihm weiter zu, bestimmt, aber gütig, bis er sicher sein konnte, daß der Junge seinen hysterischen Anfall überwunden hatte. Bei Pferden war das leichter, denen konnte man solches Zutrauen ohne Worte klarmachen.
»Jetzt werde ich mir deinen Fuß ansehen. Sei versichert, es gibt kein echtes Problem mit deinem Fuß. Er ist wund und schmerzt, aber das ist nicht das Ende der Welt.«
In zimperlicher Furcht drehte Benko den Kopf ab, während Albert tief Luft holte, sich bückte und mit der Hand auf die Schwellung drückte, die dunkelrot vor Gift war. Augenblicklich flog ein kleiner Splitter aus der Mitte der Wunde, dem Eiterspritzer folgten.
»So«, sagte Albert »schon besser.«
Benko drehte sich um und starrte Albert an. »Es geht?«
»Ja, du wirst sicher bald merken, daß dein Fuß jetzt heilt.«
»Sie legen mir Ihre Hand auf den Fuß und sagen, daß er heilt?«
»Nein, nein, ich habe bloß …«
Aber es war schon zu spät. Gerüchte machten in der Kaserne die Runde.
»Benkos Fuß war schwarz vom Wundbrand …«
»Selbst Bienenstock fiel bei dem Gestank fast in Ohnmacht …«
»Hat bloß die Hand draufgelegt …«
»Die Hand war sengend heiß, sagt Benko …«
»Hat ihn fast verbrannt …«
»Bloß eine Sekunde lang drauf liegengelassen …«
»Hätte sonst vom Knie abwärts amputiert werden müssen …«
»Und nun guckt euch den Jungen an …«
»Flink wie ein Terrier …«
»Bienenstock ist ein seltsamer Mann, hab ich doch immer gesagt …«
»Kein Christ, weißt du …«
»Nicht mal ’n echter Jude …«
»Noch nie in der Synagoge gesehen worden, sagt Korporal Heilbronn …«
Nach einer Weile fragte Albert sich selbst, was er getan hatte. Er war sicher, daß er den Splitter fliegen gesehen hatte, daß der Geruch, vor dem er zurückgewichen war, bloß der Limburgergestank schmutziger Socken gewesen war, er war sicher, daß seine »Gabe« einzig in der Fähigkeit zu trösten lag, im richtigen Sinne zu trösten, stark zu machen, zu ermuntern. Aber es war zu spät, und von jenem Tag an hatte Albert unter seinen Männern keine ruhige Minute mehr. Ein Pferd, das er »auf wundersame Weise« gesundgepflegt hatte, war später verrückt geworden und hatte einen Rekruten abgeworfen, der sich das Rückgratbrach und nie wieder laufen konnte. Überall, wo Albert hinkam, bekreuzigte man sich oder beschützte sich gegen den bösen Blick. Und dann machte Benko, der dumme, abergläubische Benko, einen Termin bei seinem Kommandeur aus und bat um seine Dienstversetzung. Rittmeister Bienenstock zu dienen mache ihn nervös. Eine Woche später starb Benko, nachdem er auf eine Tellermine getreten war.
»Er ist mit
demselben
Fuß draufgetreten«, sagten die Männer. »Bienenstocks Fluch.«
Nie wieder würde Albert jemand anderem Loyalität erweisen: Das schwor er sich, als er 1919 auf seine vernachlässigten ungarischen Äcker heimkehrte, die bald seine vernachlässigten tschechoslowakischen Äcker werden sollten. Sein Bruder Michael, der mit dem Segen des Kaisers zurückgeblieben war, um diese Äcker zu bewirtschaften, auf daß die vielen Völker des Reiches sich den Krieg versüßen könnten, war kein guter Bauer gewesen. Im Zank der Gojim, wie er den Krieg nannte, war er früh vom zionistischen Hafer gestochen worden, und er hatte Höheres im Sinn als die Bewirtschaftung schließlich doch anderen gehörender Feldfrüchte.
Nach Michaels Aufbruch arbeitete Albert die nächsten zehn Jahre daran, der größte Rübenbauer der ganzen Tschechoslowakei zu werden. 1929, als er sein Ziel erreicht hatte, setzte er diesem Triumph die Krone auf, indem er auf seinen Ländereien eine kleine Raffinerie baute und die Tochter seines Vorarbeiters heiratete, ein kleines Mädchen mit braunen Augen und seidigem Haar. Binnen Jahresfrist gebar sie ihm einen Sohn, Michael, und verstarb im Frühjahr 1932 bei der Entbindung ihrer Tochter, Rebecca. Albert tat sein Bestes, konnte sie aber nicht retten. Sosehr erauch trauerte,
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