Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
epileptischen Anfällen und Gott? Durch die Geschichte hinweg gibt es zahlreiche Beispiele von Epileptikern, die nach einem Anfall von paranormalen und religiösen Erlebnissen berichten. Ich gehe davon aus, dass Sie den polnischen Komponisten und Pianisten Frédéric Chopin kennen? Sein ganzes Leben hindurch litt Chopin an Anfällen grauenvoller Halluzinationen. Während eines Konzertes 1848, unmittelbar, bevor er mit dem berühmten Trauermarsch anfangen wollte, erhob er sich und verließ die Bühne. In einem späteren Brief schrieb er, was ihn dazu bewogen hatte: ›Ich wollte den Marsch spielen, als ich plötzlich aus dem halb geöffneten Klavier ein verfluchtes Wesen auftauchen sah, das sich mir in der grausamen Nacht im Kartäuser-Kloster gezeigt hatte.‹ Chopin hatte sich also eingebildet, ein Monster aus dem Instrument kriechen zu sehen. Ein anderes Beispiel ist aus Valldemossa auf Mallorca überliefert, wo Chopin eine Zeit lang mit seiner Geliebten George Sand wohnte. Als seine Geliebte eines Nachts nach Hause kam, war Chopin überzeugt davon, dass sie beide tot waren. Chopin sah Gespenster! Schreckliche Wesen. Diese Visionen konnten Sekunden oder Minuten anhalten. Er fühlte sich in eine andere Wirklichkeit versetzt. Litt er an Schizophrenie? Nein. Können Sie sich denken, woran Chopin litt?«
Er sah sich erwartungsvoll im Saal um. Die Antwort war so offensichtlich. Aber es kam kein Vorschlag.
»Chopin litt an Schläfenlappenepilepsie«, antwortete er selbst.
Keine Reaktion. Kein Erstaunen.
»Schläfenlappenepilepsie ist die häufigste Form der Epilepsie. Was können wir von diesem Beispiel ableiten? Störungen im Schläfenlappen können Wahnvorstellungen auslösen. Der eine sieht Gespenster und Monster. Andere sehen Gott.«
»Aber, Professor!« Wieder die Rothaarige. »Was, wenn es Gott ist, der festgelegt hat, dass religiöse Gefühle in einem bestimmten Bereich des Gehirns verankert sein sollen?«
Er lächelte sie an. Er hatte etwas übrig für aufgeweckte Studenten. Ließ sich gerne von ihnen herausfordern. »Und was, wenn es gar keinen Gott gibt, wenn unsere Götter nur ein Produkt der menschlichen Hirnaktivität sind?«
»Wenn es tatsächlich einen Gott gibt«, erwiderte sie, »und dieser Gott uns mit Haut und Haar und Hirn erschaffen hat, ist es schwer zu sagen, was zuerst da war – der Gott oder die Vorstellung von einem Gott .«
Das Interesse eines einzigen Studenten zu wecken war die ganze mühsame Vorlesungsreihe wert. Ihm graute jedes Jahr vor den Vorlesungen. Die leeren Blicke. Der Dunst von Alkohol und Pot und billigem Parfüm. Ihn interessierte einzig und allein die Forschung – die langen Tage und Nächte im Labor. Es war jedes Jahr dasselbe Theater, derselbe Streit mit dem Dekan, verschont zu werden. Und jedes Jahr der Brief, der ihm eine bestimmte Anzahl Vorlesungen auferlegte.
William Blackmore war ausgebildeter Neurobiologe. Wie er sich aktuell nennen sollte, wusste er nicht. Philosoph? Psychiater? Historiker? Religionsforscher? Parapsychologe? Quacksalber und Gauner? Seine Forschung hatte sich in eine Richtung bewegt, die die Universitätsleitung in zunehmendem Maße beunruhigte. Er machte Jagd auf Gott.
Blackmores Faszination für Gott war nicht religiös begründet. Er war überzeugt davon, dass die Gottessehnsucht des Menschen ein psychischer Reflex war. Es konnte kein Zufall sein, dass alle Kulturen zu allen Zeiten ihre Götter verehrt hatten. Unterschiedliche Götter. War die Religiosität von Gott eingepflanzt? Oder vom Menschen selbst geschaffen? Für Blackmore war die Antwort einleuchtend: Der Mensch war nicht nach Gottes Bild geschaffen. Im Gegenteil. Gott war nach dem Bild des Menschen geschaffen. Und das wollte er beweisen.
*
William Blackmores Faszination für das menschliche Gehirn entsprang einer Tragödie, die sich 1966 in Austin im Bundesstaat Texas abgespielt hatte. William war damals 16 Jahre alt gewesen.
Am späten Abend des 31. Juli setzte sich Charles Whitman, ein allem Anschein nach normaler junger Mann und nur neun Jahre älter als er selbst, an die Schreibmaschine und schrieb:
Ich kann nicht genau sagen, was mich dazu treibt, diesen Brief zu schreiben. Vielleicht tue ich es, um eine vage Begründung für meine Taten zu hinterlassen.
Als er den Brief fertig geschrieben hatte, fuhr er zu seiner Mutter, erdrosselte sie und stach ihr mehrfach mit einem Messer ins Herz. Danach schrieb er einen weiteren Brief an diejenigen, die später in der Tragödie
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