Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
Jesus Christus, gesehen! Halleluja!«
Verblüffend, dachte Blackmore. Einige der Versuchspersonen reagierten kaum, anderen wurde schwindelig und schlecht. Acht von zehn nahmen die Anwesenheit von Etwas wahr – etwas Geistigem, das nicht physisch greifbar war. Während einige wenige – offensichtlich besonders empfindsame und tief religiöse Personen – Visionen bekamen.
Sie sahen Gott.
Blackmore ging zu dem Sofa, auf dem die junge Frau saß. Er nahm ihre Hand. Sie zitterte noch immer.
»Danke, Professor Blackmore«, sagte sie. Andächtig. »Sie haben mich Gott sehen lassen! Dafür danke ich Ihnen!«
Er nickte. Lächelte. Strich ihr väterlich über den Kopf. Er wollte ihr religiöses Erlebnis nicht mit prosaischen Details über die elektromagnetische Stimulation der Schläfenlappen durch die ENMSH -Apparatur kaputt machen.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er fürsorglich.
Sie nickte. Lächelte ihn an. »Es ging mir nie besser, Professor. Niemals! Danke! Tausend Dank!«
Weißt du überhaupt, was du gerade erlebt hast?, dachte er. Für die junge Frau existierte offenbar keine Welt – oder kein Himmel – ohne Gott. So gesehen bestätigten die Halluzinationen nur ihre Überzeugung. Von Gott. Dem Einen.
Das erste Gebot hatte William Blackmore immer besonders fasziniert. Du sollst keine anderen …
3
2003
… Götter haben neben mir . Er fand es auffällig, dass ausgerechnet dieses Gebot das erste und wichtigste von allen war. Die gebieterische Machtsprache … Als Gott konnte man es sich leisten, autoritär und überheblich aufzutreten. Aber implizit schwang in dem Gebot mit, dass es andere Götter gab – die anzubeten man nicht auf die Idee kommen sollte. Und wenn es tatsächlich so war, dass es nur einen Gott gab, wieso machte er dann ausgerechnet einen winzigen Stamm von Wüstenhirten zu seinem auserwählten Volk? Wieso? Das ergab doch keinen Sinn. Er glaubte nicht daran. Einzelne frühchristliche Gnostiker meinten, es gäbe einen allmächtigen Gott über niedriger stehenden Göttern. Jahve behauptete steif und fest, alle anderen Götter wären falsch. Die ägyptischen Götter. Die griechischen Götter. Die römischen Götter. Abgötter, allesamt. Tote Götter. Im Westen stand der Jahve der Juden – der Gott von Abraham, Isaak und Jakob, der Retter der Israeliten, Vater von Jesus – allein auf dem Schlachtfeld als der einzige und wahre Gott. Der Eine. Es war und blieb fragwürdig, wieso dieser allmächtige Gott sich ein paar windgepeitschten Ziegenhirten aus der Wüste im kargen Nahen Osten offenbart hatte. Wieso hatte er sich zum Gott für diesen kleinen Stamm ausgerufen? Was war mit dem Rest der Welt, dem Rest der Menschheit? War es nicht sehr viel wahrscheinlicher, dass dieser Stamm von Ziegenhirten sich einen eigenen Gott erschaffen hatte? Um diese Fragen und Paradoxe kreisten Blackmores Gedanken seit Jahrzehnten.
Hinter den matten Drahtglasfenstern der Stanford-Universität hatte Professor Blackmore ein modernes neurobiologisches Labor aufgebaut. Der enthusiastische Mitarbeiterstab bestand aus Hirnchirurgen, Neurobiologen, Philosophen und einem versoffenen Theologen. In dem hervorragend ausgerüsteten Labor verfügte er über Technik, die Außenstehende vor Neid erblassen ließ: ein neuroradiologischer CT -Scanner, eine nuklearmedizinische Gammakamera, ein nagelneuer Positronenemissionstomograf. Blackmore hatte den ENMSH entwickelt: Experimental Neuroscientific Magnetic Solenoid Helmet . Die Medien hatten ihm einen griffigeren Namen gegeben: God Helmet . Gotteshelm. Der ENMSH sah aus wie ein Motorradhelm, barg aber eine Apparatur, die ein rotierendes Magnetfeld erzeugte, das die Schläfenlappen stimulierte. Der Gotteshelm war ursprünglich nicht dazu entwickelt worden, um Gotteswahrnehmungen zu lokalisieren. Ursprünglich war er konstruiert worden, um zu untersuchen, ob die menschliche Wahrnehmung des Ichs hauptsächlich von der rechten oder linken Gehirnhälfte gesteuert wurde. Die Forscher in Blackmores Team stellten schnell fest, dass mehrere Versuchspersonen nicht nur angaben, sich an frühere Leben erinnern zu können, sondern auch die Anwesenheit von Schemengestalten und Geistern spürten. Und die besonders Gläubigen erlebten Gottes Gegenwart. Der Gotteshelm war dabei äußerst umstritten, und je mehr an die Öffentlichkeit drang, desto lauter wurde die Kritik. Von Gläubigen, aber auch von neutralen Forschern. Die Kollegen monierten den geringen empirischen Wert der
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