Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
weiter.
Papa hat den Betrug nicht ertragen. Zwar wollte er mit Mama eine offene Beziehung führen, aber Toleranz war für Papa nur eine theoretische Größe. Er hatte geplant, seinen besten Freund umzubringen, den wollüstigen Liebhaber seiner verlogenen Ehefrau. Es sollte wie ein Unglück aussehen. So etwas kam ja vor. Aber etwas ging schief. Auf jeden Fall war es am Ende Papa, der abstürzte und auf den Felsen zerschmetterte.
Ich vermisse ihn. Seine Stimme. Sein Wissen. Den trockenen Humor. Sein Lächeln. Die Neugier. Sogar seinen Geruch nach einem langen Ausgrabungstag. Er war wie ich Archäologe. Geschichtsgräber. Jemand, der Skelette freilegt und sich fragt, was das einmal für Menschen waren und wie sie gelebt haben. Papa hatte einen ungeheuren Respekt vor den Toten. Er deutete die Geschichten, die sie ihm in ihrem beredten Schweigen erzählten. Jetzt ist er selbst in der Erde begraben, die umzugraben sein Lebensinhalt gewesen war. Auf dem Friedhof von Grefsen. Ein schlichter Granitstein unter einer alten Birke. Nur sein Name ist in den roten Stein gehauen worden. Keine Jahreszahl, die Papa in der Zeit verankert. Pflichtbewusst kümmere ich mich um das Grab. Pflanze und jäte, gieße und dünge. Warum tun wir das? Um die Erinnerung an die Toten zu pflegen? Oder unsere Trauer und Sehnsucht? Wollen wir den Toten einen letzten Ankerplatz hier auf Erden sichern? Ein Grabstein ist das Monument eines Lebens. Früher oder später wird auch unser Name auf einem stehen, eingemeißelt und vergoldet.
Auch Mama ist tot. Der Krebs hat sie geholt. Vor einigen Jahren.
II
Aus irgendeinem Grund träumte ich in dieser Nacht von Mama und Papa. Das tat ich sonst nicht. Vielleicht war ich deshalb so früh aufgewacht. Ich duschte und blätterte auf dem Tablet einige norwegische Zeitungen durch, bevor ich nach unten in den Speisesaal ging. Ich hatte Glück und fand einen leeren Zweiertisch an der Glaswand zum Olivenhain. Zum Frühstück aß ich Rührei und warme Brötchen, dazu trank ich frisch gepressten Orangensaft und Kaffee.
Wenn mich die Menschen anstarren, weiß ich nie, ob sie das tun, weil sie mich wiedererkannt haben oder weil ich Albino bin. Ein Gendefekt. Mehr nicht. Nichts, über das ich mir Gedanken mache. Außer ich sehe mich in einem Spiegel. Als Kind war das schlimmer. Da war ich immer nur der da . Aber heute kümmere ich mich nicht mehr darum.
Nach dem Frühstück schlenderte ich zum Vortragssaal. Angelica saß im Mittelblock in Reihe 10 und las den Corriere della Sera . Als sie mich sah, rutschte sie einen Sitz weiter, damit ich mich zu ihr setzen konnte.
»Bjørn«, sagte sie leise. In Ihrer Stimme schwang so ein Unterton mit … Kokett? Nein. Wohl nicht. Bestimmt nicht. Von Beginn an war mir klar gewesen, dass es ihr niemals einfallen würde, mit mir zu flirten. Ich war nicht der Typ von Mann, den eine Angelica Moretti interessant fand.
Der Saal um uns herum füllte sich langsam.
»Ist die Polizei gestern denn noch gekommen?«, fragte ich.
»Ja, nach einer Ewigkeit. Sie haben den Raum durchsucht, ohne einen einzigen fremden Fingerabdruck zu finden. Zum Glück ist der Laptop aber wieder aufgetaucht.« Sie sah mich mit einem vielsagenden Blick an. »Lorenzo hatte das Ladegerät zu Hause vergessen, weshalb er den Laptop bei einem Kollegen, der ein paar Zimmer weiter auf dem gleichen Flur wohnt, aufgeladen hat. In der Aufregung hatte er das komplett vergessen. Eingefallen ist es ihm erst wieder, als die Polizei da war.«
»Und was haben die Diebe dann mitgehen lassen?«
»Nur ein paar Ausdrucke … Das ist vollkommen unverständlich. Wer sollte ein Interesse daran haben, Lorenzos Unterlagen zu stehlen? Und warum? Was wollen die damit?«
Die Hauptperson selbst stand derweil auf der Bühne und ging auf dem Laptop noch einmal den Vortrag durch.
Um 9 Uhr wurde das Licht im Auditorium gedimmt. Ein Scheinwerfer richtete sich auf den Professor, der an den Rand der Bühne trat.
»Schön, dass Sie wieder da sind, und ein herzliches Willkommen den neuen Zuhörern«, begann er. »Heute wollen wir uns Nostradamus’ Schriften widmen, genauer gesagt den Almanachen und Prophezeiungen, und uns mit Dingen auseinandersetzen wie der Bibliothek des Teufels, dem Voynich-Manuskript und dem Buch der Weisen . Ich möchte den Vortrag aber mit einer kurzen biografischen Präsentation unseres Freundes und Weissagers Nostradamus beginnen.«
Michel de Nostredame wurde 1503 in der südfranzösischen Kleinstadt
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