Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
Stellen wir uns einmal vor, sie ist plötzlich dahintergekommen. Sie möchte die Frau loswerden. Ihr Bruder erlaubt das nicht. Die Kranke mit ihrem schwachen Herzen, nicht fähig, sich überallhin zu bewegen, verfügt über keinerlei Mittel, ihren Willen durchzusetzen. Sie bleibt an die verhaßte Zofe gefesselt. Die Lady verweigert das Sprechen, zürnt, beginnt zu trinken. In seiner Rage nimmt Sir Robert ihr den Lieblingsspaniel weg. Wären das nicht Zusammenhänge?«
»Ja – soweit, vielleicht.«
»Genau! Soweit, ja. In welcher Verbindung könnte das alles aber zu den nächtlichen Besuchen in der alten Krypta stehen? Nein, die Kryptasache paßt wohl nicht in unseren Entwurf.«
»Nein, Sir, und es gibt noch etwas, das ich nicht einpassen könnte. Warum sollte Sir Robert einen Leichnam ausgraben wollen?«
Holmes’ Körper straffte sich augenblicklich.
»Die Entdeckung machten wir erst gestern – als ich Ihnen schon geschrieben hatte. Gestern ist Sir Robert nach London gefahren, und Stephens und ich stiegen in die Krypta. Dort war alles wie gewohnt, nur daß in einer Ecke Teile eines menschlichen Körpers lagen.«
»Ich nehme an, Sie haben die Polizei benachrichtigt.«
Unser Besucher lächelte verdrießlich.
»Ich glaube kaum, Sir, daß die dafür Interesse aufbrächten. Es handelte sich um den Kopf und Stücke vom Skelett einer Mumie, vielleicht tausend Jahre alt. Aber das hat vorher nicht da gelegen. Das nehme ich auf meinen Eid, und Stephens ist derselben Meinung. Die Knochen waren in einer Ecke verborgen, mit einem Brett zugedeckt. Diese Ecke ist immer leer gewesen.«
»Was haben Sie mit den Knochen gemacht?«
»Wir haben sie nicht angerührt.«
»Das war klug. Sie sagten, Sir Robert war gestern außer Haus? Ist er zurückgekommen?«
»Wir erwarten ihn heute.«
»Wann hat Sir Robert den Hund seiner Schwester weggegeben?«
»Genau heute vor einer Woche. Das Geschöpf heulte vor dem alten Brunnenhaus, und Sir Robert hatte an diesem Morgen wieder mal seine schlechte Laune. Er fing das Tier ein, und ich glaubte, er würde es umbringen. Dann aber übergab er den Hund Sandy Bain, dem Jockey, und befahl, ihn zum alten Barnes vom ›Green Dragon‹ zu bringen. Er wolle ihn nie wiedersehen.«
Eine Weile saß Holmes still in Gedanken. Er hatte seine älteste und schlechteste Pfeife angezündet.
»Ich bin mir noch nicht darüber im klaren, Mr. Mason, was ich in der Angelegenheit unternehmen soll«, sagte er dann. »Können Sie sich vielleicht noch genauer ausdrücken?«
»Vielleicht wird es durch das hier genauer, Mr. Holmes«, sagte unser Besucher.
Er zog ein Päckchen aus der Tasche, wickelte vorsichtig das Papier ab, und zum Vorschein kam ein verkohlter Knochen.
Holmes untersuchte ihn interessiert.
»Woher haben Sie das?«
»Aus dem Ofen für die Zentralheizung im Keller unter dem Zimmer der Lady Beatrice. Er war einige Zeit nicht in Betrieb, aber Sir Robert klagte über die Kälte, und so ist er wieder angeheizt worden, Harvey bedient ihn – er ist einer von meinen Jungen. Heute früh kam er zu mir und hat mir das da gezeigt. Er hat es gefunden, als er die Asche ausräumte. Sein Aussehen gefiel ihm nicht.«
»Es gefällt mir auch nicht«, sagte Holmes. »Was halten Sie davon, Watson?«
Der Knochen war stark verkohlt, aber hinsichtlich seiner anatomischen Bedeutung gab es keine Frage.
»Es handelt sich um den Gelenkkopf eines menschlichen Schenkels«, sagte ich.
»So ist es!« Holmes war sehr ernst geworden. »Wann arbeitet der Junge an dem Ofen?«
»Er füllt ihn abends auf, dann hat er bis zum Morgen an ihm nichts mehr zu tun.«
»Dann kann also nachts jeder an den Ofen heran?«
»Ja, Sir.«
»Kommt man auch von draußen in den Keller?«
»Ja, es gibt eine Tür, man kann von draußen hinein. Eine andere Tür führt zu einer Treppe nach dem Flur, an dem Lady Beatrices Zimmer liegt.«
»Wir sind auf tiefes Wasser gestoßen, Mr. Mason, auf tiefes, ziemlich schmutziges Wasser. Sie sagten, Sir Robert war in der vergangenen Nacht nicht zu Hause?«
»Das stimmt.«
»Dann kann also er es nicht gewesen sein, der da Knochen verbrannt hat.«
»Das ist wohl wahr, Sir.«
»Wie heißt das Wirtshaus, das Sie erwähnten?«
»Green Dragon.«
»Kann man in Ihrem Teil von Berkshire gut angeln?«
Der ehrenwerte Trainer zog ein Gesicht, von dem
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