Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
trinken. Damit wohl ist der Fall erfaßt, oder nicht?«
»Mit Ausnahme der Geschichte in der Krypta.«
»Die gehört zu einem anderen Gedankengang. Es gibt zwei Gedankenfolgen, die wir abgehen müssen, und ich bitte Sie, sie nicht durcheinan derzubringen. Gedankengang A, der Lady Beatrice betrifft, hat doch wohl auch für Sie einen irgendwie finsteren Anflug?«
»Ich kann mir keinen Reim drauf machen.«
»Gut, dann also zu Gedankengang B, der Sir Robert betrifft. Er ist ganz verrückt darauf, das Derby zu gewinnen. Die Geldverleiher haben ihn fest im Griff, sie können ihn jederzeit pfänden lassen und den Reitstall unter den Hammer bringen. Er ist ein waghalsiger, verzweifelter Mann. Er bezieht seinen Lebensunterhalt von seiner Schwester. Die Zofe der Schwester ist sein williges Werkzeug. Soweit befinden wir uns auf ziemlich festem Grund, oder nicht?«
»Und was ist mit der Krypta?«
»Ach ja, die Krypta. Nehmen wir einmal an – und es ist eine schändliche Annahme, eine Hypothese, die ich aufstelle, um das Für und Wider zu klären –, nehmen wir also an, Sir Robert hat seine Schwester umgebracht…«
»Aber mein lieber Holmes, so etwas ist völlig unmöglich!«
»Höchstwahrscheinlich ist es unmöglich. Sir Robert ist ein Mann ehrbarer Abstammung. Aber es gibt manchmal ein Luder von Krähe unter den Adlern. Lassen Sie uns für einen Augenblick von dieser Voraussetzung ausgehen. Er kann nicht außer Landes fliehen, ehe er sein Vermögen unter Dach und Fach gebracht hat, und zwar ein Vermögen, das sich nur realisiert, wenn ihm der Coup mit Shoscombe Prince gelingt. Also muß er erst einmal seinen Platz behaupten. Um das zu erreichen, müßte er die Leiche seines Opfers aus der Welt schaffen, und zugleich müßte eine Helferin zur Hand sein, die die Schwester verkörpert. Mit der Zofe als Vertrauter wäre das nicht unmöglich. Den Leichnam der Frau könnten sie in die Krypta gebracht haben, einen Ort, der selten aufgesucht wird, und von dort könnten sie ihn stückweise heimlich nachts holen, um ihn im Heizungsofen zu verbrennen; dabei würden solche Beweise zurückbleiben, wie wir sie gesehen haben. Was sagen Sie dazu, Watson?«
»Gut, da Sie von einer solch ungeheuerlichen Unterstellung ausgehen, wäre das, alles möglich.«
»Ich schätze, Watson, wir müssen morgen ein kleines Experiment veranstalten, damit ein wenig Licht in die Angelegenheit kommt. Vorerst aber sollten wir, denn anders geht es nicht, unsere Rolle weiterspielen, den Wirt zu einem Glas seines Weins einladen und ein bißchen hochgestochene Konversation über Aal und Hasel führen, was, wie mir scheint, uns geradewegs seine Sympathie sichern wird. Und im Lauf der Unterhaltung könnten wir überdies auf nützlichen Dorfklatsch stoßen.«
Am Morgen entdeckte Holmes, daß wir die Blinker für den Hecht vergessen hatten, und das bewahrte uns an diesem Tag vor dem Angeln. Gegen elf Uhr vormittags verabschiedeten wir uns auf einen Spaziergang, und er erhielt die Genehmigung, den schwarzen Spaniel mitzunehmen.
»Hier sind wir richtig«, sagte er, als wir ein hohes Parktor erreichten, auf dessen seitlichen Säu len je ein stilisierter Greif thronte. »Gegen Mittag, hat Mr. Barnes mich wissen lassen, unternimmt die alte Dame ihre Ausfahrt. Während das Tor geöffnet wird, muß die Kutsche ihre Geschwindigkeit verringern und langsam fahren, bis das Tor passiert ist; bevor sie wieder schneller wird, möchte ich, Watson, daß Sie den Kutscher mit irgendeiner Frage aufhalten. Kümmern Sie sich nicht um mich. Ich werde hinter diesem Ilexstrauch stehen und sehen, was ich zu sehen bekomme.«
Wir mußten nicht lange warten. Nach einer Viertelstunde erblickten wir eine große offene gelbe Barutsche, die die lange Auffahrt herunterkam, gezogen von zwei prächtigen, hochtrabenden grauen Pferden. Holmes kroch mit dem Hund hinter den Busch. Ich stellte mich, unbekümmert, meinen Spazierstock schwingend, mitten auf den Fahrweg. Ein Wärter kam gelaufen und öffnete das Tor.
Der Wagen rollte im Schrittempo, und so war es mir möglich, einen Blick hineinzuwerfen und die Insassen voll zu erfassen. Eine aufgeputzte junge Frau mit hellblondem Haar und dreisten Augen saß links. Zu ihrer Rechten sah ich eine ältere Person mit rundem Rücken und einem Wirrwarr von Schals um Gesicht und Schultern, offenbar die Kranke. Als die Pferde die Straße erreichten, hielt ich eine Hand gebieterisch hoch, und nachdem
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