Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
deutlich die Furcht abzulesen war, daß noch ein Verrückter in sein geplagtes Dasein getreten sein könnte.
»Schon gut. Watson und ich sind berühmte Angler – stimmt’s, Watson? Demnächst könnten Sie uns im ›Green Dragon‹ finden – ab heute abend vermutlich. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß wir Sie dort nicht sehen wollen, aber eine schriftliche Nachricht wird uns immer erreichen. Und ich werde Sie auch zu erreichen wissen, wenn es nötig sein sollte. Wenn wir ein bißchen tiefer in die Angelegenheit eingedrungen sind, werde ich Ihnen unsere reiflich überlegte Meinung zukommen lassen.«
So geschah es, daß Holmes und ich einen heiteren Maiabend in einem Coupé Erster Klasse auf dem Weg zu der kleinen Station von Shoscombe verbrachten, auf der die Züge nur auf Verlangen hielten. Im Gepäcknetz über uns lagen Angeln, Spulen und Körbe. Vom Zielbahnhof gelangten wir nach kurzer Fahrt zu einer alten Taverne, wo sich Josiah Barnes, ein sportlicher Wirt, mit uns eifrig in ein Gespräch einließ, wie man die Fische der Umgebung ausrotten könne.
»Wie steht’s mit dem Hall-See, ist es möglich, dort auf Hechte auszugehen?« fragte Holmes.
Das Gesicht des Gastwirts verdüsterte sich.
»Das würde kaum klappen, Sir. Womöglich finden Sie sich im See wieder, ehe Sie noch zu was gekommen sind.«
»Wie das?«
»Sir Robert, Sir. Er ist höllisch hinter Spionen her. Wenn zwei Fremde so nah bei seinem Trainingslager erscheinen, dann hat er sie, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Der macht keine Ausnahmen, Sir Robert nicht.«
»Ich hörte, er hat ein Pferd für das Derby gemeldet.«
»Ja, und das ist ein toller Hengst. Auf den haben wir unser ganzes Geld gesetzt, und Sir Robert selber steckt bis zum Hals mit im Geschäft. Übri gens« – er sah uns nachdenklich an –, »will ich nicht annehmen, daß Sie vom Turf sind.«
»Nein, sind wir wirklich nicht. Wir sind nur zwei ermattete Londoner, die ein bißchen gute Luft von Berkshire dringend nötig haben.«
»Na, da sind Sie aber am richtigen Ort. Davon gibt’s hier mehr als genug. Aber vergessen Sie nicht, was ich Ihnen von Sir Robert erzählt habe. Der ist von der Sorte, die erst zuschlägt und hinterher spricht. Bleiben Sie weit genug von seinem Park weg.«
»Auf alle Fälle, Mr. Barnes. Das werden wir tun. Übrigens: Das ist ein herrlicher Spaniel, der unten in der Halle heulte.«
»Das können Sie laut sagen. Echte ShoscombeZucht. In ganz England finden Sie nichts Besseres.«
»Ich bin Hundeliebhaber«, sagte Holmes. »Ist die Frage erlaubt, was so ein Prachtstück von Hund wohl kosten würde?«
»Mehr als ich aufbringen könnte, Sir. Sir Robert persönlich hat ihn mir gegeben. Deshalb muß ich ihn auch an der Kette halten. Wenn ich dem seinen Willen ließe, wär der im Handumdrehn wieder im Herrenhaus von Shoscombe.«
»Wir kriegen ein paar Trümpfe in die Hand, Watson«, sagte Holmes, nachdem der Wirt uns verlassen hatte. »Die Partie ist nicht leicht zu spielen, aber in ein oder zwei Tagen werden wir klarer sehen. Sir Robert ist übrigens noch in London, wie ich hörte. Vielleicht können wir heute abend den heiligen Grund betreten, ohne einen Angriff befürchten zu müssen. In einigen Punkten möchte ich noch genauer Bescheid wissen.«
»Haben Sie schon eine Theorie, Holmes?«
»Nur soviel weiß ich, daß vor ungefähr einer Woche etwas geschehen ist, das tief in das Leben der Leute von Shoscombe eingegriffen hat. Aber was ist es? Wir können nur von den Auswirkungen her Vermutungen anstellen. Und die sind, wie es aussieht, seltsam gemischt. Aber gerade deshalb werden wir bestimmt weiterkommen. Nur die farblosen Fälle, in denen nichts passiert, sind hoffnungslos.
Überlegen wir doch einmal, was wir bereits wissen. Der Bruder besucht nicht mehr die geliebte kranke Schwester. Er verschenkt ihren Lieblingshund. Ihren Hund, Watson! Bringt Sie der Umstand nicht auf einen Gedanken, Watson?«
»Nur auf den, daß der Bruder boshaft ist.«
»Gut, vielleicht war’s das. Oder… Es gibt eine Alternative. Bleiben wir bei der Situation jenes Tages, als der Streit begann – wenn es einen Streit gegeben hat. Die Lady verläßt nicht mehr ihr Zimmer, ändert ihre Gewohnheiten, bleibt unsichtbar, außer wenn sie mit der Zofe ausfährt, weigert sich, bei den Ställen anzuhalten, um ihr Lieblingspferd zu begrüßen, und fängt anscheinend an zu
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