Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
blaue Flasche, die auf dem Kaminsims stand. Ich nahm sie in die Hand. Sie war mit einer Giftwarnung versehen. Als ich sie öffnete, entstieg ihr ein angenehmer Duft nach Mandeln.
»Blausäure?« sagte ich.
»So ist es. Sie kam mit der Post. ›Hiermit schicke ich Ihnen meinen Versucher. Ich werde Ihren Ratschlag befolgen‹: Diese Worte waren beigefügt. Ich glaube, Watson, wir besitzen eine Vorstellung, wie die tapfere Frau heißt, die das geschickt hat.«
Shoscombe Old Place
Sherlock Holmes hatte lange Zeit über ein Mikroskop gebeugt gesessen. Jetzt richtete er sich auf und sah sich triumphierend um.
»Es ist Leim, Watson«, sagte er. »Unzweifelhaft Leim. Werfen Sie einen Blick auf die Partikel, die ich unter das Mikroskop getan habe.«
Ich trat heran und stellte das Instrument auf meine Augenstärke ein.
»Die Haare sind Fasern aus einem TweedJackett. Das undefinierbar Graue ist Staub. Links erkennen Sie Hautfetzen. Aber die braunen Kügelchen in der Mitte, das ist zweifelsfrei Leim.«
»Nun gut«, sagte ich und lachte. »Ich bin bereit, Ihnen zu glauben. Hängt denn irgend etwas davon ab?«
»Damit habe ich einen ganz klaren Beweis«, antwortete er. »Vielleicht erinnern Sie sich, im St.-Pancras-Fall wurde neben dem toten Polizisten eine Mütze gefunden. Der Beschuldigte leugnet, daß sie ihm gehört. Aber er ist ein Bilderrahmer, und die gehen für gewöhnlich mit Leim um.«
»Ist es einer Ihrer Fälle?«
»Nein. Mein Freund Merivale vom Yard hat mich gebeten, in die Angelegenheit einen Blick zu tun. Seit ich den Falschmünzer durch das Vorhandensein von Zink- und Kupferspuren am Ärmelaufschlag überführen konnte, beginnen sie die Wich tigkeit des Mikroskops zu begreifen.« Ungeduldig schaute er auf seine Uhr. »Ein neuer Klient hat sich angesagt, er ist schon überfällig. Übrigens, Watson, verstehen Sie etwas vom Pferderennen?«
»Eigentlich müßte ich. Schließlich opfere ich dafür ungefähr die Hälfte meiner Verwundetenrente.«
»Wenn das so ist, ernenne ich Sie zu meinem ›Handführer durch alle Fragen des Turfs‹. Wie steht’s mit Sir Robert Norberten? Können Sie mit dem Namen was anfangen?«
»Das darf ich wohl sagen. Er lebt in Shoscombe Old Place, die Gegend kenne ich gut, denn ich hatte da unten mal eine Sommerwohnung. Norberten wäre fast einmal in Ihre Domäne geraten.«
»Wie das?«
»Als er Sam Brewer, den bekannten Geldverleiher aus der Curzon Street, auf der Rennbahn Newmarket Heath mit der Reitpeitsche verprügelte. Er hatte den Mann fast umgebracht.«
»Ah, das klingt interessant. Läßt er sich öfters auf diese Weise gehen?«
»Nun, er steht in dem Ruf eines Mannes, der gefährlich lebt. Er ist der verwegenste Reiter Englands – war vor ein paar Jahren Zweiter im Grand National. Er gehört zu jenen, die eigentlich nicht ins Heute hineinpassen. Er wirkt eher wie ein Draufgänger aus der Zeit der Regentschaft – ein Boxer, ein Athlet, ein waghalsiger Wetter auf dem Turf, ein Liebhaber schöner Damen –, und nach allem, was man hört, hat er sich wohl so gründlich verrannt, daß er vielleicht nie mehr auf den Weg findet.«
»Herrlich, Watson! Eine Skizze aus lockerem Handgelenk. Jetzt habe ich eine Vorstellung, als kennte ich den Mann. Können Sie mir auch ein Bild von Shoscombe Old Place vermitteln?«
»Ich kann nur sagen, daß das Gut inmitten des Parks von Shoscombe liegt; dort befindet sich auch das berühmte Shoscombe-Gestüt und die Trainingsstätte.«
»Und der Cheftrainer«, sagte Holmes, »ist John Mason. Sie brauchen nicht so erstaunt dreinzusehen wegen meines Wissens, Watson. Der Brief, den ich jetzt entfalte, kommt von ihm. Aber erzählen Sie mir ein bißchen mehr von Shoscombe. Anscheinend bin ich da bei Ihnen auf eine reiche Ader gestoßen.«
»Da wären die Shoscombe-Spaniels«, sagte ich. »Bei jeder Hundeschau machen sie Aufhebens. Die exklusivste Zucht, die es in England gibt. Sie sind der besondere Stolz der Herrin von Shoscombe Old Place.«
»Ich nehme an, das ist die Gattin von Sir Robert Norberten.«
»Sir Robert war nie verheiratet. Zum Glück, wenn ich bedenke, wie es um ihn steht. Er lebt bei Lady Beatrice Falder, sie ist seine verwitwete Schwester.«
»Sie meinen wohl, sie lebt bei ihm.«
»Nein, nein. Der Besitz gehörte ihrem verstorbenen Gatten, Sir James. Norberton hat auf ihn überhaupt keinen Anspruch. Der Lady ist die le
Weitere Kostenlose Bücher