Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
klar, daß ich ihn nicht hinters Licht führen konnte. Er senkte die Hand in eine Schublade und wühlte darin herum. Dann mußte irgendein Geräusch an sein Ohr gedrungen sein, denn er stand plötzlich bewegungslos und lauschte.
»Ah!« schrie er, »ah!« und stürzte in das hinter ihm gelegene Zimmer.
Mit zwei Schritten erreichte ich die geöffnete Tür, und die Erinnerung an das, was dann geschah, wird mir immer bleiben. Das Fenster zum Garten war weit offen. Daneben stand, erschöpften weißen Gesichts, blutgetränkte Binden um den Kopf, Sherlock Holmes. Er sah aus wie ein Schreckgespenst. Im nächsten Augenblick war Holmes mit einem Sprung aus dem Fenster, und ich hörte, wie er krachend in den Lorbeerbüschen landete. Mit Wutgeheul stürzte der Hausherr hinter ihm her zum Fenster.
Und dann! Es dauerte nur einen Moment, und doch sah ich alles ganz deutlich. Ein Arm – der Arm einer Frau schoß aus den Blättern hervor. Gleichzeitig stieß der Baron, einen schrecklichen Laut aus – einen gellenden Schrei, der mir immer in Erinnerung bleiben wird. Er schlug beide Hände vors Gesicht, raste durchs Zimmer und stieß mit dem Kopf fürchterlich an die Wände. Schließlich ließ er sich auf den Teppich fallen, wo er sich zukkend wälzte, während Schrei auf Schrei durch das Haus hallte.
»Wasser! Um Gottes willen, Wasser!« rief er immer wieder.
Ich riß eine Karaffe von einem Tischchen und eilte ihm zu Hilfe. Im selben Augenblick kamen der Butler und einige Diener aus der Halle herbeigerannt. Ich erinnere mich, daß einer von ihnen ohnmächtig wurde, als er neben dem verwundeten Mann kniete und das schreckliche Gesicht ins Licht der Lampe drehte. Überall fraß das Vitriol, und es tropfte von den Ohren und vom Kinn. Ein Auge war schon weiß und glasig. Das andere war rot und entzündet. Das Gesicht, das ich ein paar Minuten zuvor noch bewundert hatte, sah jetzt aus wie ein wundervolles Bild, über das der Künstler mit einem nassen, schmutzigen Schwamm gefahren war. Die Züge, verschwommen, verfärbt, wirkten unmenschlich, fürchterlich.
Mit wenigen Worten erklärte ich genau, was ge
schehen war, jedenfalls soweit es den Überfall mit dem Vitriol betraf. Einige kletterten durch das Fenster, andere liefen über den Rasen; aber es war dunkel, und es hatte zu regnen begonnen. Zwischen den Schreien tobte und raste das Opfer gegen die Rächerin.
»Es war das Satansweib Kitty Winter!« schrie er. »Oh, diese Teufelin! Das soll sie mir bezahlen! Das soll sie bezahlen! Gott im Himmel, der Schmerz ist unerträglich!«
Ich badete sein Gesicht in Öl, legte Baumwollwatte auf die rohen Stellen und spritzte subkutan Morphium. Durch den Schock war in ihm aller Verdacht gegen mich geschwunden, und er klammerte sich an meine Hände, als hätte ich die Macht, sogar die Augen, die wie die toter Fische auf mich blickten, wieder klar zu machen. Ich hätte über den Verfall weinen mögen, wäre in mir nicht das Wissen über sein schurkisches Leben ganz klar gewesen, das zu diesem scheußlichen Ende geführt hatte. Es war widerwärtig, das Krallen seiner fieberheißen Hände zu spüren, und ich atmete erleichtert auf, als sein Hausarzt und kurz darauf ein Spezialist kamen und mich von meiner Pflicht befreiten. Ein Polizeiinspektor erschien auch, und ihm übergab ich meine richtige Visitenkarte. Es wäre sinnlos und närrisch gewesen, anders zu handeln, denn man kannte mich beim Yard fast genausogut wie Holmes selber. Dann verließ ich das Haus der Düsternis und des Schreckens. Eine Stunde später war ich in der Baker Street.
Holmes saß in seinem Lieblingssessel und sah sehr blaß und erschöpft aus. Nicht nur die Verletzungen plagten ihn; die Ereignisse des Abends hatten sogar seine eisernen Nerven angegriffen, und mit Entsetzen hörte er an, was ich über das Schicksal des Barons zu berichten wußte.
»Der Lohn der Sünde, Watson – der Lohn der Sünde«, sagte er. »Früher oder später stellt er sich immer ein. In seinem Spiel war, weiß Gott, viel Sünde«, fügte er hinzu und nahm ein Buch mit braunem Einband vom Tisch. »Das ist das Buch, von dem die Frau sprach. Wenn das nicht die Heirat verhindert, dann kann nichts sie verhindern. Aber es wird Erfolg haben, Watson. Es muß! Keine Frau mit Selbstachtung könnte all das ertragen.«
»Ein Tagebuch seiner Liebe.«
»Oder ein Tagebuch seiner Lüste. Nennen Sie es, wie Sie wollen. In dem Moment, da die Frau es erwähnte,
Weitere Kostenlose Bücher