Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
schlimmer ist als all das, was Sie von sich zugegeben haben, daß Sie nämlich versucht haben, ein hilfloses Mädchen, das unter Ihrem Dach lebte, zugrunde zu richten. Einigen von euch Reichen muß einmal beigebracht werden, daß ihr nicht die ganze Welt bestechen könnt, damit sie euch eure Missetaten nachsieht.«
Zu meinem Erstaunen steckte der Goldkönig diesen Tadel mit Gleichmut ein.
»Genauso denke ich jetzt auch darüber. Ich danke Gott, daß meine Pläne fehlschlugen. Sie wollte von mir nichts annehmen, sondern äußerte die Absicht, auf der Stelle das Haus zu verlassen.«
»Warum hat sie es nicht getan?«
»Nun, vor allem, weil es Menschen gibt, die materiell von ihr abhängig sind, und es war nicht leicht für sie, sie alle im Stich zu lassen, indem sie ihre Stellung aufgab. Als ich ihr geschworen hatte – und das tat ich wirklich –, sie nicht mehr zu belästigen, willigte sie ein, zu bleiben. Aber da war auch noch ein anderer Grund. Sie kannte ihren Einfluß auf mich und wußte, daß er stärker war als jeder sonstige Einfluß der Welt. Sie wollte ihn zum Guten ausüben.«
»Und wie?«
»Sie kannte sich ein wenig in meinen Angelegenheiten aus. Die sind bedeutend, Mr. Holmes, bedeutender, als sich das der gemeine Mann vorstellen kann. Ich kann erschaffen oder zerbrechen – meist zerbreche ich. Und nicht nur Individuen. Auch Gemeinden, Städte, sogar Nationen. Geschäft ist ein brutales Spiel, und die Schwachen gehen dabei vor die Hunde. Ich spielte das Spiel nach allen Regeln. Ich habe nie gewinselt und mich auch nie darum gekümmert, ob der andere winselte. Sie sah die Welt nicht so. Ich nehme an, sie hatte recht. Sie war der Überzeugung, daß ein Vermögen, wenn es das zum Leben Notwendige übersteigt, nicht auf dem Rücken von Tausenden ruinierter Menschen, die ohne das Nötigste auskommen müssen, aufgebaut werden darf. So sah sie das, und ich vermute, ihr Blick ging an den Dollars vorbei auf etwas, das beständiger ist. Sie merkte, daß ich ihr zuhörte, und sie dachte, sie diene der Welt, wenn sie auf meine Aktionen Einfluß nahm. Also blieb sie – und dann geschah das.«
»Können Sie die Sache ein bißchen erhellen?«
Der Goldkönig hielt für eine Minute oder länger inne, der Kopf sank in seine Hände, und er saß in Gedanken verloren da.
»Es sieht sehr finster für sie aus. Das läßt sich nicht leugnen. Und Frauen besitzen ein besonderes Innenleben und sind womöglich imstande, etwas zu tun, das sich dem Urteil der Männer entzieht. Zuerst war ich so durcheinander und bestürzt, daß ich bereit war zu glauben, sie habe sich auf eine außergewöhnliche, ihrer Natur ganz zuwiderlaufende Art gehenlassen. Aber dann ist mir eine Erklärung eingefallen. Ich verrate sie Ihnen, Mr. Holmes, sehen Sie zu, was Sie damit anfangen können. Zweifellos war meine Frau furchtbar eifersüchtig. Zu körperlicher Eifersucht gab es für sie keinen Grund – ich glaube, das wußte sie auch –, ihre rasende Eifersucht kam aus tiefster Seele, denn sie hatte verstanden, daß dieses englische Mädchen einen Einfluß auf mein Denken und Handeln gewonnen hatte, den sie selber nie besessen hatte. Daß der Einfluß zum Guten wirkte, änderte an der Tatsache nichts. Sie war verrückt vor Haß, und südliches Feuer rumorte ihr immer im Blut. Vielleicht hat sie den Plan gefaßt, Miss Dunbar zu ermorden – oder, sagen wir, ihr mit dem Revolver zu drohen und sie aus dem Haus zu schrecken. Vielleicht gab es ein Handgemenge, und der Schuß löste sich und traf die Frau, die den Revolver hielt.«
»Diese Möglichkeit ist mir auch schon durch den Kopf gegangen«, sagte Holmes. »Darin bestünde ja wirklich die einzig einleuchtende Alternative zum vorsätzlichen Mord.«
»Aber sie streitet es entschieden ab.«
»Nun, das ist nicht endgültig – oder? Es wäre doch verständlich, daß eine Frau in einer so schrecklichen Lage nach Hause läuft und in ihrer Verwirrung den Revolver in der Hand behält. Vielleicht hat sie ihn sogar in ihren Kleiderschrank geworfen, kaum wissend, was sie tat, und als er dann gefunden wurde, mag sie, um sich aus der Sache herauszulügen, jede Begegnung mit Ihrer Frau geleugnet haben, weil Erklärungsversuche ohnehin unwahrscheinlich geklungen hätten. Was steht einer solchen Annahme entgegen?«
»Miss Dunbar selbst.«
»Nun gut, vielleicht.«
Holmes schaute auf seine Uhr.
»Ich zweifle nicht, daß wir die erforderliche
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