Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
Mr. Holmes? Sie weisen meinen Fall ab?«
»Nun, Mr. Gibson, Sie zumindest weise ich ab. Ich sollte denken, meine Worte waren deutlich.«
»Deutlich genug, aber was steckt hinter ihnen? Wollen Sie den Preis hochtreiben, oder fürchten Sie sich, die Sache anzupacken, oder was sonst? Ich habe ein Recht auf eine deutliche Antwort.«
»Mag sein«, sagte Holmes. »Ich werde Ihnen eine Antwort geben. Dieser Fall ist an sich schon schwierig genug und bedarf nicht weiterer Komplikationen durch eine Falschinformation.«
»Das bedeutet, ich lüge.«
»Nun, ich habe versucht, es so vorsichtig wie möglich auszudrücken, aber wenn Sie auf dem Wort bestehen, will ich Ihnen nicht widersprechen.«
Ich sprang auf, denn der Ausdruck im Gesicht des Millionärs war entschieden teuflisch, und er hatte seine große knotige Faust erhoben. Holmes lächelte matt und streckte seine Hand nach der Pfeife aus.
»Machen Sie keinen Lärm, Mr. Gibson. Nach dem Frühstück fände ich selbst das kleinste Wortgefecht verwirrend. Ich kann mir vorstellen, daß ein Bummel in der Morgenluft und ein bißchen ruhiges Nachdenken Ihnen sehr gut täten.«
Der Goldkönig strengte sich an, seine Wut zu zügeln. Ich konnte nicht umhin, ihn zu bewundern, wie er durch ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung binnen einer Minute von loderndem Zorn zu kühler und verächtlicher Gelassenheit wechselte.
»Gut, Sie haben gewählt. Ich vermute, Sie wissen, wie Sie Ihre Geschäfte zu führen haben. Ich kann Sie nicht zwingen, gegen Ihren Willen den Fall aufzunehmen. Aber Sie haben sich am heutigen Morgen nichts Gutes angetan, Mr. Holmes; denn ich habe schon stärkere Leute als Sie in die Knie gezwungen. Niemand hat sich je mit mir angelegt und ist am Ende Sieger gewesen.«
»Viele haben mir so etwas schon gesagt, und doch stehe ich hier«, sagte Holmes lächelnd. »Guten Morgen, Mr. Gibson. Sie haben noch eine Menge zu lernen.«
Unser Besucher machte einen geräuschvollen Abgang, aber Holmes rauchte in unerschütterlicher Ruhe, die Augen verträumt gegen die Zimmerdecke gerichtet.
»Haben Sie irgendwas anzumerken, Watson?« fragte er schließlich.
»Nun, Holmes, ich muß gestehen, wenn ich in Betracht ziehe, daß dieser Mann bestimmt jedes Hindernis aus dem Weg fegt, und wenn ich mich daran erinnere, daß seine Frau vielleicht ein Hindernis gewesen sein mag und ein Objekt, dem er abgeneigt war, wie dieser Herr Bates uns unumwunden erklärt hat, will mir scheinen…«
»Exakt, Watson. Mir auch.«
»Aber welche Beziehungen unterhielt er denn zu der Gouvernante, und wie sind Sie dahintergekommen?«
»Bluff, Watson, Bluff! Als ich den leidenschaftlichen, unkonventionellen, gar nicht geschäftsmäßigen Ton seines Briefes bedachte und die beherrschte Art seines Auftretens dagegensetzte, wurde mir ziemlich klar, daß es da ein tiefes Gefühl gibt, das eher der angeklagten Frau als dem Opfer gelten dürfte. Wir müssen unbedingt genau über die Beziehungen dieser drei Personen zueinander Bescheid wissen, wenn wir die Wahrheit herausbekommen wollen. Sie haben meine gegen ihn vorgetragene Frontalattacke erlebt und gesehen, wie unerschütterlich er ihr begegnet ist. Dann bluffte ich ihn, indem ich ihm den Eindruck vermittelte, daß ich mir absolut gewiß sei, obwohl ich in Wirklichkeit nur einen starken Verdacht hatte.«
»Vielleicht kommt er zurück?«
»Auf jeden Fall kommt er zurück. Er muß zurückkommen. Er kann die Dinge nicht in dem Zustand belassen. Ha! hat es da nicht geklingelt? Ja, das ist sein Schritt. Nun, Mr. Gibson, ich sagte gerade zu Dr. Watson, Sie seien irgendwie überfällig.«
Der Goldkönig betrat das Zimmer, in zahmerer Stimmung, als er es verlassen hatte. Verletzter Stolz stand ihm zwar noch im Blick, aber sein gesunder Menschenverstand hatte ihm gesagt, daß er einlenken müsse, wollte er sein Ziel erreichen.
»Ich habe alles noch einmal überdacht, Mr. Holmes, und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß ich Sie zu schnell falsch verstand. Sie haben ein Recht darauf, die Tatsachen zu erfahren, in welcher Richtung auch immer, und ich halte deswegen nur um so mehr von Ihnen. Wie dem auch sei, ich kann Ihnen versichern, daß meine Beziehungen zu Miss Dunbar den Fall wirklich nicht berühren.«
»Das kann nur ich entscheiden, oder nicht?«
»Ja, ich nehme an, so ist es. Sie sind wie ein Chirurg, der alle Symptome kennenlernen will, bevor er die Diagnose
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