Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
Aber ich habe Worte gehört, die fast genauso schlimm waren – Worte kalter, schneidender Verachtung, sogar vor den Bediensteten.«
»Unser Millionär scheint im Privatleben nicht gerade ein erfreulicher Mann zu sein«, stellte Holmes fest, als, wir den Weg zum Bahnhof eingeschlagen hatten. »Nun, Watson, wir sind auf eine hübsche Menge Tatsachen gestoßen, darunter einige neue, und doch scheint mir, ich bin noch ein gutes Stück von einer endgültigen Schlußfolgerung entfernt. Trotz der unübersehbaren Abneigung, die Bates gegen seinen Chef hegt, darf man aus seinen Worten doch schließen, daß Gibson sich ohne jeden Zweifel in der Bibliothek befand, als die bestürzende Nachricht eintraf. Um halb neun war das Dinner beendet, und bis zu diesem Zeitpunkt verlief alles ganz normal. Zwar wurde die Tote ziemlich spät am Abend entdeckt, aber die Tragödie hat sich zweifellos zu der Stunde abgespielt, die der Zettel angibt. Wir haben überhaupt keinen Beweis für die Annahme, daß sich Mr. Gibson nach seiner Rückkehr aus der Stadt um fünf Uhr außer Haus aufgehalten hat. Andererseits gibt Miss Dunbar, soweit ich verstand, zu, eine Verabredung mit Mrs. Gibson an der Brücke getroffen zu haben. Darüber hinaus will sie nichts sagen, da ihr Rechtsanwalt sie angewiesen hat, sich bis zum Prozeß zurückzuhalten. Wir müssen einige lebenswichtige Fragen an diese junge Dame stellen, und ich finde nicht eher Ruhe, bis ich mit ihr gesprochen habe. Ich gestehe, daß ich für Miss Dunbar schwarzsähe, wäre da nicht der eine Punkt.«
»Und welcher, Holmes?«
»Der Umstand, daß man den Revolver in ihrem Kleiderschrank gefunden hat.«
»Aber um Himmels willen, Holmes!« rief ich. »Mir kommt es im Gegenteil so vor, als belaste gerade dieser Umstand sie am meisten.«
»Nein, nein, Watson. Er ist mir schon bei meinem ersten, oberflächlichen Bekanntwerden mit dem Fall als sehr seltsam aufgefallen, und jetzt, da ich näher mit der Sache vertraut bin, gründet sich auf ihn meine einzige Hoffnung. Wir müssen nach Folgerichtigkeit Ausschau halten. Und wo sie fehlt, müssen wir Täuschung annehmen.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Aber Watson, versetzen Sie sich doch einmal in die Rolle einer Frau, die das Ziel verfolgt, auf kalte, vorbedachte Weise eine Rivalin aus dem Weg zu räumen. Sie haben alles geplant, haben ein Briefchen geschrieben. Das Opfer ist gekommen. Sie haben Ihre Waffe. Dann ist das Verbrechen verübt. Alles ist handwerklich perfekt abgelaufen. Sie können mir doch nicht erzählen, daß Sie, nachdem Sie alles mit soviel Kunstfertigkeit ausgeführt haben, Ihren Ruf als perfekter Verbrecher ruinieren, indem Sie einfach vergessen, Ihre Waffe in die nahen Binsenwucherungen zu werfen, wo sie für immer unauffindbar wäre, sie statt dessen sorgfältig nach Haus tragen und in Ihren Kleiderschrank legen, an einen Platz also, der mit Sicherheit zuerst durchsucht würde. Ihre besten Freunde, Watson, halten Sie wohl kaum für einen planenden Kopf; trotzdem könnte ich mir nicht vorstellen, daß Sie etwas so Unausgegorenes täten.«
»In der Aufregung des Augenblicks…«
»Nein, nein, Watson, es scheint mir unmöglich. Wo ein Verbrechen mit kühlem Vorbedacht begangen wird, da werden auch mit kühlem Vorbedacht die Spuren verwischt. Und so darf ich hoffen, daß wir es gegenwärtig mit einem ernstlichen Mißverständnis zu tun haben.«
»Aber dann muß noch viel erklärt werden.«
»Nun, dann machen wir uns eben ans Erklären. Wenn man erst einmal seinen Gesichtswinkel geändert hat, wird ausgerechnet das, was so sehr für die Schuld sprach, zum Hinweis auf die Wahrheit. Zum Beispiel dieser Revolver. Miss Dunbar leugnet, von ihm gewußt zu haben. Nach unserer neuen Theorie spricht sie die Wahrheit, wenn sie das sagt. Also ist er in ihren Kleiderschrank gelegt worden. Wer hat ihn hineingelegt? Jemand, der den Verdacht auf sie lenken wollte. Und ist dann nicht dieser Jemand der wahre Täter? Wie Sie sehen, kommen wir auf diese Weise auf eine Kette höchst fruchtbarer Fragen.«
Wir mußten die Nacht in Winchester verbringen, da noch nicht alle Formalitäten erledigt waren. Aber am nächsten Morgen erhielten wir die Erlaubnis, in Begleitung von Mr. Joyce Cummings, eines jungen, emporstrebenden Anwalts, dem ihre Verteidigung anvertraut worden war, die junge Dame in ihrer Zelle zu besuchen. Nach allem, was wir gehört hatten, erwartete ich eine schöne Frau zu
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