Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
stellt.«
»Genau. So kann man sagen. Und nur der Patient, der sich zum Ziel gesetzt hat, seinen Chirurgen zu belügen, würde vor ihm die Tatsachen seines Falls verbergen.«
»Mag sein, aber Sie müssen mir zugeben, Mr. Holmes, daß die meisten Männer ein bißchen zurückschrecken, wenn man sie geradewegs nach ihren Beziehungen zu einer Frau fragt – wenn es sich wirklich um ernstere Gefühle handeln sollte. Ich glaube, Männer haben irgendwo in der Seele eine verschwiegene Ecke, in der Eindringlinge nicht willkommen sind. Und Sie sind da einfach plötzlich hineingeplatzt. Aber das Ziel entschuldigt Sie, da Sie ja nur versuchen, sie zu retten. Nun gut, der Zaun ist gefallen, alle Türen stehen offen, und Sie können auf Entdeckungsreise gehen, wo Sie wollen. Was möchten Sie hören?«
»Die Wahrheit.«
Der Goldkönig schwieg einen Augenblick, als müßte er seine Gedanken ordnen. Sein strenges, von tiefen Linien durchzogenes Gesicht war noch trauriger und noch ernster geworden.
»Ich kann sie Ihnen mit sehr wenig Worten sagen«, begann er schließlich. »Es gibt Dinge, die sehr schmerzlich sind, aber auch schwierig auszusprechen, und also werde ich nicht tiefer gehen als nötig. Ich lernte meine Frau kennen, als ich in Brasilien auf Goldsuche war. Maria Pinto war die Tochter eines Regierungsbeamten aus Manao, sie war sehr schön. Damals war ich jung und feurig, aber auch jetzt noch, wenn ich mit kühlerem Blut und kritischerem Auge zurückblicke, komme ich nicht umhin, zu sagen: Sie war einmalig in ihrer Schönheit. Dazu besaß sie einen tiefen, reichen Charakter, war leidenschaftlich und rückhaltlos, war ein Kind der Tropen, unausgeglichen und ganz anders als die amerikanischen Frauen, die ich kannte. Um es kurz zu machen: Ich verliebte mich in sie, und ich heiratete sie. Nur daß ich, als die Romanze vorüber war – und sie währte einige Jahre –, feststellte, daß wir nichts, aber auch gar nichts gemein hatten. Meine Liebe schwand. Wäre die ihre auch geschwunden, hätte alles leichter sein können. Aber Sie kennen ja die seltsame Natur der Frauen. Ich mochte tun, was ich wollte, nichts konnte sie dazu bringen, sich von mir abzuwenden. Wenn ich hart zu ihr war, sogar brutal, wie einige meinen, dann nur, weil ich wußte, daß es für uns beide leichter würde, wenn es mir gelang, ihre Liebe abzutöten oder in Haß zu verwan deln. Aber nichts konnte sie verändern. Sie liebte mich in diesen englischen Wäldern genauso, wie sie mich zwanzig Jahre zuvor an den Ufern des Amazonas geliebt hatte. Ich konnte tun, was ich wollte, sie war mir zugetan wie eh und je.
Dann kam Miss Grace Dunbar. Sie meldete sich auf unsere Annonce und wurde Gouvernante unserer beiden Kinder. Vielleicht haben Sie ihr Bild in den Zeitungen gesehen. Alle Welt ließ verlauten, daß auch sie eine sehr schöne Frau sei. Nun, ich erhebe keinen Anspruch darauf, moralischer zu sein als meine Mitmenschen, und ich gebe zu, daß ich nicht unter demselben Dach mit ihr leben und täglichen Umgang mit ihr haben konnte, ohne eine leidenschaftliche Zuneigung zu ihr zu fassen. Verurteilen Sie mich dafür, Mr. Holmes?«
»Ich verurteile Sie nicht, weil Sie die Leidenschaft empfanden. Ich müßte Sie verurteilen, wenn Sie sie ihr gestanden hätten, denn die junge Dame befand sich gewissermaßen unter Ihrem Schutz.«
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte der Millionär, und der Verweis brachte für einen Moment wieder das wütende Glimmen in seine Augen zurück. »Ich behaupte nicht, ich sei besser, als ich bin. Mein ganzes Leben lang war ich derjenige, der zugriff, wenn er etwas wollte, und nie habe ich etwas mehr gewollt als die Liebe und den Besitz dieser Frau. Und das sagte ich ihr.«
»Ach, wirklich?«
Holmes konnte fürchterlich aussehen, wenn ihn etwas bewegte.
»Ich sagte ihr, ich würde sie heiraten, wenn ich könnte, aber das stünde ganz außer meiner Macht. Ich sagte ihr, Geld spiele keine Rolle, und daß ich alles tun wolle, was ich könne, um sie glücklich zu machen.«
»Sehr großzügig, in der Tat«, sagte Holmes mit einem höhnischen Grinsen.
»Nun hören Sie mal zu, Mr. Holmes. Ich bin zu Ihnen gekommen, damit Sie mir einen Beweis erbringen, und nicht, um mir eine Moralpauke anzuhören. Ihre Kritik interessiert mich nicht.«
»Ich nehme mich des Falles nur um der jungen Dame willen an«, sagte Holmes streng. »Ich weiß nicht, ob das, was man ihr vorwirft, wirklich
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