Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
ihn nicht gar zu sehr anstrengten. Sommers wie winters ging er schwimmen, und da ich selber ein leidenschaftlicher Schwimmer bin, begleitete ich ihn oft.
In diesem Augenblick sahen wir den Mann. Sein Kopf erschien am Rand der Klippen, dort, wo der Pfad endet. Dann wurde die ganze Gestalt sichtbar; er torkelte wie ein Betrunkener. Eine Sekunde später warf er die Arme hoch, stieß einen schrecklichen Schrei aus und fiel vornüber. Stackhurst und ich stürzten zu ihm hin – uns trennten vielleicht fünfzig Yard – und drehten ihn auf den Rücken. Augenscheinlich lag er im Sterben. Die glasigen eingesunkenen Augen und die schrecklich blassen Wangen ließen keine andere Deutung zu. Für einen Moment trat wieder ein Funken Leben in sein Gesicht, und er stammelte eine dringliche Warnung. Er sprach unverständlich, aber ich glaubte aus der letzten, mit einem Schrei von den Lippen gebrachten Äußerung die Worte »Mähne des Löwen« herauszuhören, etwas, das gänzlich belang- und sinnlos schien und das ich doch so vernommen hatte und nicht anders auslegen konnte. Dann kam er noch einmal halb hoch, warf die Arme in die Luft und fiel zur Seite.
Mein Begleiter war von dem plötzlichen Schreck gelähmt, aber in mir spannten sich, wie sich vorstellen läßt, die Sinne aufs äußerste. Und das war auch nötig, denn im Nu wurde klar, daß wir vor einem außerordentlichen Fall standen. Der Mann trug nur seinen Burberry-Mantel, eine Hose und ein Paar nicht zugeschnürte Leinenschuhe. Als er den Sturz tat, war der nur um die Schultern geworfene Mantel zu Boden geglitten und hatte den Oberkörper enthüllt. Auf ihn starrten wir jetzt mit Entsetzen. Der Rücken war über und über mit dunkelroten Linien bedeckt, als wäre er mit einer dünnen Drahtpeitsche gegeißelt worden. Das Instrument, mit dem die Bestrafung geschehen war, mußte offensichtlich sehr elastisch gewesen sein, denn die langen blutigroten Striemen zogen sich weiter um Schultern und Rippen. Vom Kinn tropfte Blut, weil er sich im Todeskampf die Unterlippe durchgebissen hatte. Das erschöpfte und verzerrte Gesicht ließ ahnen, wie furchtbar der Todeskampf gewesen sein mußte.
Als ich bei der Leiche kniete und Stackhurst neben mir stand, fiel ein Schatten auf uns, und dann erkannten wir, daß Ian Murdoch zu uns getreten war. Murdoch war der Mathematiklehrer am Institut, ein großer, dunkler, dünner Mann, so schweigsam und in sich zurückgezogen, daß sich von niemandem sagen ließ, er sei sein Freund. Er schien in den höheren abstrakten Gefilden der irrationalen mathematischen Größen und der Kegelschnitte zu leben, und man konnte meinen, ihn verbinde kaum etwas mit dem gewöhnlichen Dasein. Die Studenten hielten ihn für einen sonderbaren Kauz, und er wäre wohl Zielscheibe ihres Spotts geworden, hätte nicht das fremdländische Blut in seinen Adern, angezeigt durch die kohlschwarzen Augen und die dunkle Gesichtsfarbe, gelegentlich zu Ausbrüchen geführt, die man nur als wild bezeichnen konnte. Einmal belästigte ihn ein kleiner Hund, der McPherson gehörte; er ergriff das Geschöpf und schleuderte es durch die Fensterscheibe, eine Handlungsweise, derentwegen ihn Stackhurst bestimmt entlassen hätte, wäre er nicht ein so vorzüglicher Lehrer gewesen. Das also war der seltsame und komplizierte Mann, der sich jetzt zu uns gesellt hatte. Der Anblick schien ihn wirklich zu erschüttern, wenngleich, wie die Geschichte mit dem Hund beweist, nicht viel Sympathie zwischen dem Toten und ihm bestanden haben mochte.
»Armer Kerl! Armer Kerl! Was kann ich nur tun? Wie kann ich helfen?«
»Waren Sie mit ihm zusammen? Können Sie uns sagen, was geschehen ist?«
»Nein, nein. Ich bin heute morgen verspätet. Ich war überhaupt nicht am Strand. Ich komme direkt von der Schule. Was kann ich tun?«
»Laufen Sie gleich zum Polizeirevier in Fulworth und melden Sie den Vorfall.«
Ohne ein Wort entfernte er sich eiligst, und ich kümmerte mich weiter um die Angelegenheit, während Stackhurst, noch ganz benommen von der Tragödie, neben der Leiche blieb. Natürlich mußte ich zuerst feststellen, wer sich am Strand aufhielt. Von der höchsten Stelle des Pfads her konnte ich ihn ganz überblicken, und ich fand ihn völlig verlassen, von den zwei oder drei Gestalten abgesehen, die sich in der Ferne nach dem Dorf Fulworth zu bewegten. Als dieser Punkt geklärt war, stieg ich langsam den Pfad hinunter. Der Grund war Lehm oder weicher, mit Kreide
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