Das Opfer
Drogendealer ihrer Highschool zu einem furchterregenden Trip in eine nahe gelegene Stadt mitgefahren, um eine gewisse Menge Crack abzuholen – ein Abenteuer, das auf einer Überwachungskamera der Polizei festgehalten wurde und den Anruf eines Kriminalbeamten bei ihrer Mutter nach sich zog. Sally Freeman-Richards war außer sich vor Wut gewesen, hatte ihrwochenlang Hausarrest erteilt, sie angeschnauzt und ihr klargemacht, dass sie weiß Gott von Glück sagen konnte, nicht hinter Gittern gelandet zu sein, und dass sie es schwer haben würde, das Vertrauen ihrer Mutter wiederzuerlangen. Hope und ihr Vater waren jeweils zu nachsichtigeren Schlüssen gekommen und hatten von jugendlicher Rebellion geredet, wobei Scott sich an ein paar Dummheiten erinnerte, die er sich in ihrem Alter geleistet hatte, über die sie lachen konnte und die sie trösteten. Sie glaubte nicht, dass sie bewusst auf Gefahr aus war, doch Ashley wusste auch, dass sie es ab und zu darauf ankommen ließ, und sie hielt sich für einen Glückspilz, wenn sie daran dachte, dass sie bis jetzt ungeschoren davongekommen war. Ashley kam sich oft vor wie Ton auf einer Töpferscheibe, die sich so lange dreht, bis die Masse Gestalt annimmt, und sie rechnete jeden Moment mit dem Hitzeschwall des Schmelzofens, um gebrannt zu werden.
Sie fühlte sich orientierungslos. Ihren Job beim Museum, wo sie beim Katalogisieren der Exponate half, machte ihr wenig Spaß. Es war ein Job, bei dem man in einem Hinterzimmer hockte und auf einen Computerbildschirm starrte. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob das Graduierten-Programm in Kunstgeschichte, für das sie sich beworben hatte, das Richtige für sie war, denn manchmal dachte sie, dass sie nur deshalb auf dieses Fach verfallen war, weil sie geschickt mit Stift, Tinte und Pinsel umgehen konnte. Das machte ihr schwer zu schaffen, denn wie so viele junge Menschen glaubte sie, dass sie nur das tun sollte, was sie wirklich liebte. Und noch hatte sie nicht herausgefunden, was es war.
Sie hatten die Bar verlassen, und Ashley zog gegen die abendliche Kälte den Mantel enger um sich. Ihr war bewusst, dass Will ein bisschen Beachtung verdiente. Er sah gut aus, war aufmerksam und hatte möglicherweise Sinn für Humor. Er hatte einen seltsamen, etwas hoppelnden, irgendwie drolligen Gang und war im Großen und Ganzen jemand, der bei ihr durchaus Chancen besaß. Zugleich wurde ihr allerdings bewusst, dass sie bereits fast zwei Häuserblocks gelaufen waren und nur noch etwa fünfzig Meter bis zu ihrer Haustür hatten, und bis jetzt hatte er ihr noch keine richtige Frage gestellt.
Ihr fiel ein kleines Spielchen ein. Falls er ihr eine Frage stellte, die sie interessant fand, hatte er sich ein zweites Date verdient. Fragte er sie dagegen nur, ob er mit raufkommen könnte, war es das gewesen.
»Was meinst du?«, fragte er plötzlich. »Wenn Typen in einer Bar sich wegen Baseball in die Haare kriegen, geht es ihnen dabei um den Sport oder um den Streit? Ich meine, schließlich gibt es letztlich keine richtigen Antworten, sondern nur die Loyalität gegenüber einer Mannschaft. Und über blinde Treue lässt sich eigentlich nicht streiten, oder?«
Ashley lächelte. Das war sein zweites Date.
»Natürlich«, fügte er hinzu, »ist Liebe zu den Red Sox etwas für mein Oberseminar in ›Die Psychologie des Abnormen‹.«
Sie lachte. Eindeutig ein zweites Date.
»Da wären wir«, sagte sie. »War ein netter Abend.«
Will sah sie an. »Sehen wir uns wieder? Das nächste Mal vielleicht in einer etwas ruhigeren Umgebung?«, schlug er vor.
»Vielleicht können wir uns besser kennenlernen, wenn wir nicht gegen das Gebrüll und die wilden Spekulationen über Derek Jeters Vorlieben für Lederpeitschen und Sexspielzeuge in Überlebensgröße und die Körperöffnungen, in die sie eingeführt werden, ankämpfen müssen.«
»Das fände ich schön«, sagte Ashley. »Rufst du mich an?«
»Ganz bestimmt«, antwortete Will.
Sie stieg die erste Stufe zum Eingang ihres Wohnblocks hoch, als ihr bewusst wurde, dass sie immer noch seine Hand hielt. Sie drehte sich um und gab ihm einen langen Kuss. Einen relativ keuschen Kuss, bei dem ihre Zunge nur so eben zwischen seine Lippen drang. Ein verheißungsvoller Kuss, der für die folgenden Tage mehr versprach, wenn auch nicht für diese Nacht. Er schien die Botschaft zu verstehen, was sie zu schätzen wusste, denn er trat einen halben Schritt zurück, verbeugte sich galant wie ein Höfling aus dem 18.
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