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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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dem Arm der Mutter. Er würde sie morgen anrufen, nahm er sich vor. Sie einladen und ein wenig am Telefon mit ihr plaudern. Er ging die möglichen Themen durch und versuchte, sich eines einfallen zu lassen, das überraschend wäre. Er überlegte, wohin er sie einladen sollte. Ins Kino? Zu offensichtlich. Er hatte das Gefühl, dass Ashley zu den Frauen gehörte, für die man sich etwas Besonderes einfallen lassen musste. Vielleicht ins Theater? Kabarett? Und anschließend noch zum Essen, allerdings nicht in die übliche Bier-und-Burger-Bude. Aber auch nichts Snobistisches vermutlich. Auf jeden Fall etwas, wo sie Ruhe hatten. Also erst was zum Lachen und dann was Romantisches. Der Plan strotzte vielleicht nicht vor Originalität, aber er war plausibel.
    Er hatte seine Haltestelle erreicht und sprang fast mit einem Satz von seinem Platz und aus dem Zug, um zügig, wenn auch ein bisschen gedankenverloren, zum Ausgang zu gelangen. Oben angekommen, drangen die Lichter vom Porter Square durch die Dunkelheit und suggerierten Leben, wo Menschenleere herrschte. Wieder beugte er sich gegen die Kälte vor und bog vom Platz in eine Seitenstraße ein. Er wohnte vier Häuserblocks entfernt. Er ging in Gedanken die Restaurants durch, die er kannte, um das Richtige zu finden, in das er sie einladen würde. Als er einen Hund bellen hörte, drosselte er erschrocken das Tempo. In der Ferne zerschnitt eine Krankenwagensirene die Nacht. In einigen Fenstern der Maisonettes und Wohnungen dieses Häuserblocks schimmerte das fahle Licht der Fernseher, die meisten lagen jedoch im Dunkel.
    Rechts von ihm drang ein scharrendes Geräusch wie von einer Katze aus einer schmalen Gasse, und er wandte unwillkürlich den Kopf. Plötzlich sah er, wie eine schwarze Gestalt in seine Richtung stürzte. Erstaunt machte er einen Schritt zurück und hielt instinktiv einen Arm hoch, um sich zu schützen. Er dachte noch, dass er um Hilfe schreien sollte, doch dann ging alles viel zu schnell, und ihm blieb nur noch ein einziger Moment des Schocks und der panischen Angst, weil er wusste, dass etwas mit großer Geschwindigkeit auf ihn zielte. Es war ein Bleirohr, das mit einem Zischen durch die Luft schwang, als wäre es ein Schwert, und mit unerbittlicher Wucht seine Stirn traf.
     

     
    Ich musste mir sieben Stunden lang die Augen verderben, bis ich schließlich Will Goodwins Namen im
Boston Globe
entdeckte. Nur dass unter der Überschrift »Studienabsolvent niedergeschlagen – Polizei fahndet nach dem Täter« ein anderer Name stand. Der Artikel selbst war knappe vier Absätze lang und enthielt herzlich wenig Informationen, nur so viel, dass die erlittenen Verletzungen als so schwer eingestuft wurden, dass er ins Massachusetts General Hospital eingeliefert werden musste, wo man seinen Zustand weiterhin als kritisch beurteilte. Ein Passant hatte ihn am frühen Morgen blutüberströmt hinter einigen Mülleimern in einer schmalen Gasse entdeckt. Die Polizei bat um Hinweise aus der Bevölkerung des Stadtteils Somerville, falls jemand etwas Verdächtiges gesehen oder gehört hatte. Die Meldung stand im Lokalteil ganz unten.
    Das war alles.
    Kein Folgebericht am nächsten Tag oder in den Wochen danach. Nichts weiter als ein Moment städtischer Gewalt, der gemeldetwurde, wie es sich gehörte, ebenso schnell zur Kenntnis genommen wie vergessen und von der Flut der neu hereinbrechenden Nachrichten verdrängt.
    Ich musste mich weitere zwei Tage durchtelefonieren, um an eine Adresse heranzukommen. Vom Büro der Absolventen am Boston College erfuhr ich, dass er ein weiterführendes Studium, für das er sich eingeschrieben hatte, nicht hatte abschließen können; außerdem gab man mir seine Hauptadresse in Concord, einem Vorort von Boston. Eine Telefonnummer war allerdings nicht verzeichnet.
    Concord ist eine schöne Wohngegend mit stattlichen Häusern, die das Flair alter Zeiten verströmen. Der Vorort schmückt sich mit einer ausgedehnten Grünfläche und einer imposanten Stadtbibliothek, einer Privatschule und einem pittoresken Stadtzentrum voll modischer Geschäfte. In jüngeren Jahren bin ich mit meinen eigenen Kindern hierhergekommen; ich habe mit ihnen die nahe gelegenen Kriegsschauplätze besucht und ihnen dabei Longfellows berühmtes Gedicht vorgetragen. Wie so viele Städte in Massachusetts hat das Städtchen bei seiner baulichen Planung die Geschichte hintangestellt. Das Haus allerdings, aus dem der Mann kam, den ich unter dem Namen Will Goodwin kannte, war ein

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