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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Michael O’Connell hat ihn erschossen?«
    Sie sah mich mit einem eigentümlichen Blick an, als sei die Frage irgendwie deplatziert. Wir waren bei ihr zu Hause, und da sie nicht gleich antwortete, warf ich einen Blick durchs Wohnzimmer. Plötzlich merkte ich, dass es keine Fotos gab.
    Sie lächelte. »Ich denke, Sie sollten sich fragen, ob Michael O’Connell es nötig hatte, Murphy zu töten? Vielleicht
wollte
er es. Er hatte eine Waffe. Er hatte die Gelegenheit. Aber hatte er nicht schon genug getan, indem er all diese vertraulichen Informationen an so viele verschiedene Leute schickte, um sein Ziel zu erreichen? Konnte er nicht ziemlich zuversichtlich sein, dass einer auf dieser Liste mit Gewalt reagieren würde? War das nicht eher O’Connells Stil – indirekt vorzugehen? Ereignisse und Situationen zu schaffen? Seine Umgebung zu manipulieren? Er musste sich Murphy vom Hals schaffen. Murphy kam aus einer Welt, die Michael O’Connell kannte, und zwar nur allzu gut. Er war sich daher der Bedrohung, die er darstellte, sehr wohl bewusst. Murphy war in einem Punkt nicht so viel anders als O’Connell. Murphy musste verschwinden. Und genau das ist passiert, nicht wahr?«
    Sie sah mich an und senkte die Stimme fast zu einem Flüstern. »Was machen wir? Wie handeln wir? Es ist nicht schwer zu entscheiden, was man tun soll, wenn der Feind mit der Waffe auf einen zielt. Aber sind wir uns nicht oft selbst der größte Feind, weil wir unseren eigenen Augen nicht trauen? Glauben wir nicht oft, das Gewitter würde vorüberziehen, obwohl es sich deutlich zusammenbraut? Der Damm unter der Flut würde schon halten? Und so erfasst sie uns, nicht wahr?«
    Sie holte noch einmal tief Luft und wandte sich wieder zum Fenster, um hinauszustarren. »Und wenn sie uns erfasst hat, werden wir dann ertrinken?«

29
Eine Schrotflinte auf dem Schoß
     
    Michael, ich vermisse dich. Ich liebe dich. Komm und rette mich
.
    Er hörte, wie Ashley mit ihm sprach, fast so, als säße sie neben ihm auf dem Beifahrersitz. Er wiederholte die Worte immer wieder und veränderte den Tonfall – einmal flehentlich und verzweifelt, dann wieder sexy und einladend. Die Worte waren wie Liebkosungen.
    O’Connell war auf einer Mission – wie ein Soldat, der ein vermintes Gelände durchquert, oder ein Rettungsschwimmer, der in turbulente Gewässer taucht, hielt er weiter Kurs nach Norden, überquerte die Grenze nach Vermont, unaufhaltsam Ashley entgegen.
    Im Dunkeln tastete er mit den Fingern über die Bisswunden an seinem Handrücken und Unterarm. Das Blut aus der Wunde an der Wade hatte er mit einer Mullbinde aus dem billigen Verbandskasten im Handschuhfach stillen können. Er hatte wirklich verdammtes Glück gehabt, dass der Hund nicht seine Achillessehne zerfetzt hatte. Seine Jeans war zerrissen und wahrscheinlich blutverkrustet. Am Morgen musste er sich eine neue besorgen. Doch alles in allem war es ein großer Erfolg.
    O’Connell griff nach oben und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Er wusste, dass er keine anderthalb Stunden mehr vonAshley entfernt war, selbst für den Fall, dass er sich auf den Landstraßen zu Catherine Fraziers Haus einmal verfahren sollte.
    Er lächelte innerlich und hörte wieder Ashley nach sich rufen.
Michael. Ich vermisse dich. Ich liebe dich. Komm und rette mich
. Er kannte sie besser als sie sich selbst.
    Er öffnete das Fenster einen Spaltbreit und ließ frische Luft herein, um sich ein wenig abzukühlen. O’Connell wusste, dass es zwei Ashleys gab. Die eine war diejenige, die versucht hatte, ihn loszuwerden, die so wütend, so verängstigt und so ausweichend war. Diese Ashley gehörte zu Scott, Sally und dieser abartigen Hope. Bei dem Gedanken an sie runzelte er die Stirn. Ihre Beziehung war krankhaft, pervers, und er wusste, dass Ashley entschieden besser dran sein würde, wenn er sie befreit hatte.
    Die wahre Ashley war die Frau, die ihm am Tisch gegenübergesessen hatte, die mit ihm getrunken und über seine Witze gelacht hatte – atemberaubend, wie sie sich auf ihn eingelassen hatte. Die wahre Ashley hatte sich physisch und emotional viel tiefer mit ihm verbunden, als er je für möglich gehalten hatte. Die wahre Ashley hatte ihn, wenn auch nur kurz, in ihr Leben aufgenommen, und es war seine Pflicht, diesen Menschen wiederzufinden.
    Er würde sie befreien.
    O’Connell wusste, dass die Ashley, die ihre Eltern und Stiefmutter für die echte Ashley hielten, nur ein Schatten ihrer selbst war. Die Studentin, Künstlerin

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