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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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fährt und man in Panik auf die Bremse tritt. Aber eine tiefe, lähmende Angst kommt aus der Unsicherheit. Sie nagt an der Widerstandskraft, sie gibt keine Ruhe und ist stets gegenwärtig. Als ich der jungen Frau gegenübersaß, sah ich jedes Fältchen, das die Angst in ihr Gesicht eingegraben und sie vorzeitig altern lassen hatte, jeden nervösen Tick – ihre Hände, die sie ständig rieb, das Augenlid, das unablässig zuckte, bis hin zum Beben in ihrer Stimme, das deutlicher zu hören war als die Worte, die sie flüsterte.
    »Ich hätte mich nicht auf ein Treffen mit Ihnen einlassen sollen«, sagte sie.
    Manchmal ist es weniger die Angst zu sterben als die Angst weiterzuleben.
    Sie legte beide Hände um eine Tasse heißen Tee und hob sie langsam an die Lippen.
    Draußen war es unbarmherzig heiß, und jeder andere im Café des Einkaufszentrums trank etwas Eisgekühltes, doch sie schien die Hitze nicht wahrzunehmen.
    »Ich weiß das zu schätzen«, antwortete ich. »Ich werde nicht viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Ich möchte nur eine Sache bestätigt haben.«
    »Ich muss los. Ich kann nicht bleiben. Ich darf nicht mit Ihnen gesehen werden. Meine Schwester hat die Kinder, und ich kann sie nicht zu lange bei ihr lassen. Wir ziehen um. Nächste Woche, nach …« Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde Ihnen nicht sagen, wohin wir ziehen. Das verstehen Sie doch?«
    Sie beugte sich ein wenig vor, und ich konnte eine dünne, lange, weiße Narbe nahe an ihrem Haaransatz sehen. »Natürlich. Es geht auch ganz schnell«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Ihr Mann war Police Captain, und Sie haben Matthew Murphy im Lauf Ihres Scheidungsverfahrens angeheuert, nicht wahr?«
    »Ja. Mein Exmann hat einen Teil seines Einkommens verschoben und mich und die drei Kinder betrogen. Ich wollte, dass Murphy herausfindet, wo er das Geld gelassen hatte. Meine Anwältin meinte, Murphy wäre gut in so was.«
    »Ihr Ex war ein Tatverdächtiger im Mordfall Murphy, richtig?«
    »Ja. Die Beamten der State Police haben ihn mehrmals befragt. Sie haben auch mit mir gesprochen.«
    Sie schüttelte den Kopf und fügte dann hinzu: »Ich war sein Alibi.«
    »Wie das?«
    »In der Nacht, in der Murphy ermordet wurde, tauchte mein Exmann ziemlich früh am Tag bei mir zu Hause auf. Er hatte getrunken. Er war in einer ausgesprochen miesen Stimmung, selbstmordgefährdet. Bestand darauf, reinzukommen, die Kinder zu sehen. Ich habe ihn nicht dazu bringen können zu gehen.«
    »Hatten Sie denn keine einstweilige Verfügung?«
    »Doch. Ein Annäherungsverbot. Zu allen Tageszeiten hundert Meter Abstand. So hieß es in der richterlichen Verfügung. Hat mächtig viel gebracht. Er ist eins neunzig groß und fast hundertzwanzigKilo schwer, und er kennt jeden Cop weit und breit. Alles Kumpel von ihm. Was sollte ich denn machen? Mich ihm entgegenstellen? Er hat gemacht, was er wollte.«
    »Tut mir leid. Das Alibi …«
    »Na, jedenfalls begann er zu trinken. Dann, mich zu verprügeln. Stundenlang. Bis zur Bewusstlosigkeit. Wenn er am nächsten Morgen aufwachte, hat er sich entschuldigt. Gesagt, es würde nie wieder vorkommen. Ist es auch nicht, eine ganze Woche lang.«
    »Und das haben Sie den Beamten von der State Police erzählt?«
    »Wollte ich nicht. Ich wünschte, ich hätte den Mumm gehabt, ihnen zu sagen: ›Aber sicher war er es. Er hat mir gesagt, er wär’s gewesen.‹ Auf diese Weise wäre ich ihn ein für alle Male losgeworden. Aber das hab ich nicht fertiggebracht.«
    Ich zögerte. »Was mich interessieren würde …«
    »Ich weiß, was Sie interessiert.« Sie griff sich an die Stirn und strich mit dem Finger den schmalen Grat der Narbe entlang. »Als er mich mit der Faust schlug, hat mich sein Ring vom Fitchburg State College – da haben wir uns kennengelernt – übel erwischt. Hat mir dieses Andenken an ihn eingebracht. Sie wollen wissen, wie er von Murphy erfahren hat, nicht wahr?«
    Ich nickte.
    »Während eines Streits hat er es mir auf den Kopf zugesagt. Hat mich angebrüllt: ›Du hast tatsächlich geglaubt, ich wär zu blöd, um dahinterzukommen, dass du einen Privatschnüffler angeheuert hast?‹« Ich sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
    »Er bekam einen anonymen Brief. Einen einfachen braunen Umschlag. Mit einer Kopie von allem, was Murphy über ihn rausgefunden hatte. All die vertraulichen Sachen, die nur meine Anwältin und mich etwas angingen. Irgendwo in Worcester abgestempelt. Ich kenne niemanden in der

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