Das Opfer
fing Sally an. Dann sah sie, dass die Nachrichtenanzeige rot blinkte. Sie drückte die Wiedergabetaste.
Ashleys fröhliche Stimme erfüllte den Raum.
»Hi Mom und hi Hope. Ich vermisse euch. Aber ich genieße es hier bei Catherine. Wir wollten essen gehen, und ich wollte nur wissen, ob ich in den nächsten Tagen mal kurz vorbeischauen kann. Catherine würde mir ihren Wagen leihen, wisst ihr, und ich könnte mir ein paar wärmere Sachen holen. Tagsüber ist es wunderschön in Vermont, aber nachts wird es ganz schön kalt, und ich brauche einen Parka und vielleicht auch Stiefel. Jedenfalls war das so eine Idee. Ich melde mich später wieder. Hab euch lieb.«
»Oh mein Gott«, platzte Sally heraus. »Oh nein.«
»Er weiß es«, sagte Hope. »Er weiß es mit Sicherheit.«
Sally fuhr heftig zurück und wirbelte herum. Ihr Gesicht war völlig verzerrt, und vor Angst war ihr eiskalt.
»Das ist nicht alles«, erklärte Hope leise. Sally folgte ihrem Blick zum Bücherregal. Das zweite Fach war voller Familienfotoalben – von Hope und Sally, von Nameless und von ihnen allen mit Ashley. Darunter war auch eine anmutige Aufnahme von Ashley im Profil, beim Wandern in den Green Mountains, als gerade die Sonne untergeht – ein besonders glücklicher Schnappschuss. Das Bild gehörte zu ihren Lieblingsfotos, da es sie genau im Übergang vom Kind zur Erwachsenen, von der Zahnspange und knochigen Knien zu Grazie und Schönheit einfing.
Das Bild stand normalerweise in der Mitte des Fachs.
Es war nicht mehr da.
Sally würgte und griff nach dem Telefon. Sie wählte Cathe rines Nummer und stand hilflos da, als es immer wieder klingelte, ohne dass jemand abnahm.
Scott hatte an diesem Abend beschlossen, zu einem der anderen nahe gelegenen Colleges zu fahren und sich den Vortrag eines Verfassungsrechtlers von Harvard anzuhören, der im Rah men einer Veranstaltungsreihe stattfand. Es war dabei um die Geschichte und Entwicklung des Rechts durch ordentliche Verfahren gegangen – eine wirklich lebendige Präsentation. Er fühlte sich geistig angeregt, und als er auf dem Nachhauseweg anhielt, um sich in einem chinesischen Restaurant Huhn mit Eiernudeln, Beef und Erbsen zu besorgen, freute sich Scott darauf, den übrigen Abend allein mit seinen studentischen Referaten zu verbringen.
Er merkte sich vor, im Lauf des Abends Ashley anzurufen, nur um zu sehen, ob alles in Ordnung war und ob er ihr Geld schicken sollte. Ihm war unbehaglich bei dem Gedanken, dass Catherine für sie aufkommen sollte. Er wollte eine angemessene finanzielle Übereinkunft treffen, zumal er nicht recht wusste, wie lange Ashley dort bleiben musste. Wahrscheinlich nicht mehr allzu lange. Dennoch wollte er nicht, dass sie Catherine zur Last fiel. Er wusste nicht, ob Catherine wohlhabend war. Sie waren sich nur ein, zwei Mal bei dankenswerterweise kurzen und überaus höflichen Gelegenheiten begegnet. Zumindest wusste er, dass sie Ashley gern hatte, ein eindeutiges Plus in seinen Augen.
Das chinesische Essen fing gerade an, durch die Papiertüte zu tropfen, als er zur Tür hereinkam und das Telefon klingeln hörte.
Er warf die Mahlzeit auf die Küchentheke und griff nach dem Hörer. »Ja? Hallo?«, fragte er knapp.
»Scott, er ist hier gewesen, er hat Nameless getötet, und jetzt weiß er, wo Ashley ist, und ich kann sie am Telefon nicht erreichen.«
Sallys Worte überschlugen sich.
»Sally, beruhige dich«, sagte er. »Eins nach dem anderen.«
Er hörte seine eigene Stimme. Bedächtig. Vernünftig.
Innerlich fühlte er dagegen, wie sich sein Herzschlag, sein Atem beschleunigte und sich alles um ihn zu drehen begann, als befände er sich im freien Fall aus einem düsteren, windgepeitschten Himmel.
Ashley und Catherine schlenderten, je einen Becher Kaffee in der Hand, durch Battleboro langsam Richtung Catherines Wagen und sahen sich unterwegs die Schaufensterauslagen an – von Künstlerbedarf über Haushaltswaren und Sportausrüstungen bis zu Büchern. Ashley fühlte sich an das College-Städtchen erinnert, in dem sie aufgewachsen war, ein Ort geprägt von den Jahreszeiten und einem gemächlichen Lebensrhythmus. In einer Stadt, die sich allergrößte Mühe gab, jedem Standpunkt gerecht zu werden, schien es keinen Grund zu geben, sich nicht heimisch oder gar bedroht zu fühlen.
Von der Stadt hinaus aufs Land, wo Catherines Haus, abgeschieden von den Nachbarn, in die Hügel und Felder eingebettet lag, waren es mit dem Auto etwa zwanzig Minuten.
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