Das Opfer
und Museumsdrohne Ashley war eine Fiktion, eine Ausgeburt dieser liberalen Mittelschicht-Schmachtlappen, die nur einen Abklatsch von sich selbst haben wollten, damit sie einmal ein ähnlich albernes, unbedeutsames Leben führen würde wie sie. Die wahre Ashley wartete darauf, dass er wie der Märchenprinz kam und ihr eineandere Welt zeigte. Das war die Frau, die sich nach Abenteuer sehnte, nach einem Dasein im Grenzbereich: Bonnie und Clyde, eine Ashley, die er – jenseits der üblichen Regeln – an seiner Seite haben würde. Dass sie zögerte, ja, vor der Freiheit, die er ihr anbot, sogar zurückschreckte, war nicht weiter verwunderlich. Das aufregende Dasein, das er ihr brachte, muss sie zunächst ängstigen.
Er musste es ihr zeigen.
Michael O’Connell lächelte. Er war zuversichtlich. Es mochte nicht leicht werden. Wahrscheinlich würde es ein bisschen knifflig, doch früher oder später würden ihr die Augen geöffnet werden.
Unter einer Aufwallung von Erregung gab O’Connell Vollgas, so dass der Wagen einen Satz nach vorne machte. In Sekundenschnelle war er auf die linke Spur ausgeschert und holte alles aus dem Wagen heraus. Er wusste, dass ihn niemand aufhalten konnte. Nicht in dieser Nacht.
Nicht mehr weit, dachte er, ganz bestimmt nicht mehr weit.
Hope hüllte ihre Trauer in die Schatten der Nacht. Auf dem Nachhauseweg hatte sie Sally fahren lassen. Hopes Schweigen schien bleich, gespenstisch, als wäre sie nicht ganz sie selbst.
Sally besaß so viel Takt, schweigend am Lenkrad zu sitzen und Hope ihren Gedanken zu überlassen. Sie hatte ein wenig Schuldgefühle, dass es ihr nicht so schlecht ging, wie es eigentlich angebracht gewesen wäre. Doch sie bestürmten ganz andere Gedanken: So schrecklich der Verlust von Nameless auch sein mochte – sie beschäftigte vor allem,
wie
er gestorben war und was das zu bedeuten hatte. Sie hatte das dringende Bedürfnis, etwas zu unternehmen, während sie versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was an diesem Abend tatsächlich vorgefallen war.
Auf ihrer Einfahrt kam der Wagen knirschend zum Stehen, und Sally sagte: »Es tut mir so leid, Hope. Ich weiß, was er dir bedeutet hat.«
Hope hatte das Gefühl, als hörte sie seit Monaten die ersten mitfühlenden Worte von ihrer Lebensgefährtin. Sie holte tief Luft, stand wortlos auf und lief über den Rasen, wobei sie das abgefallene Laub mit den Füßen aufwirbelte. Sie blieb an der Eingangstür stehen und nahm sich eine Sekunde, um sie zu untersuchen, bevor sie sich zu Sally umdrehte. »Hier ist er nicht rein«, stellte sie mit einem tiefen Seufzer fest. »Es sei denn, derjenige kann ein Schloss knacken, was vermutlich der Fall ist. Doch hier draußen hätte ihn irgendjemand, ein Nachbar oder Lieferant, gesehen.«
Sally war jetzt bei ihr. »Hinterm Haus. Durch den Keller. Oder durch eins der Seitenfenster.«
Hope nickte. »Ich schau hinten nach, sieh du dir die Fenster an, besonders drüben bei der Bibliothek.«
Hope brauchte nicht lange, bis sie den zersplitterten Türrahmen gefunden hatte. Einen Moment lang stand sie nur da und starrte die Holzsplitter auf dem Zementboden an. »Sally, hier unten!« Eine einzige nackte Glühbirne an der Decke warf seltsame Schatten in die muffigen Ecken des alten Kellers. Hope erinnerte sich, dass Ashley in jüngeren Jahren immer Angst gehabt hatte, allein hinunterzugehen, um die Wäsche zu erledigen, als ob sich in den Ecken und Spinnweben Trolle oder Gespenster versteckten. Sie hatte bei diesen Gelegenheiten Nameless zur Verstärkung mitgenommen. Selbst noch als Teenager, als Ashley wusste, dass sie viel zu aufgeklärt war, um an solchen Unsinn zu glauben, nahm sie alle ihre zu engen Jeans und die knapp geschnittene Unterwäsche, die ihre Mutter nicht sehen durfte, schnappte sich einen Hundekuchen und hielt Nameless die Kellertür auf. Das Tier trabte dann eifrig dieTreppe hinunter und machte genügend Radau, um lauernde Dämonen zu verschrecken. Dann wartete er bereits auf Ashley, indem er dasaß und in freudiger Erwartung mit dem Schwanz Halbmonde auf den Kellerboden fegte.
Als Sally die Treppe herunterkam, drehte Hope sich um. »Hier ist er eingebrochen.«
Sally betrachtete die Splitter und nickte. Sie trat beiseite, und Hope ging an ihr vorbei.
»Dann ist er die Treppe hoch. Wahrscheinlich hatte er eine von diesen Minitaschenlampen. Von da in die Küche.«
»Da muss ihn Nameless gehört oder gerochen haben«, vermutete Sally.
Hope holte Luft. »Nameless hat
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