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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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älteres Gebäude im Stil der Farmhäuser aus frühkolonialer Zeit, ein Stück zurückgesetzt an einer Nebenstraße und über eine etwa fünfzig Meter lange Kieseinfahrt zu erreichen. Im Vorgarten hatte sich jemand offensichtlich Mühe bei der Anpflanzung der Blumen gegeben. Eine kleine Plakette auf der strahlend weiß gestrichenen Fassade datierte das Anwesen auf 1789. Zu einer Seitentür führte eine hölzerne Rollstuhlrampe. Ich näherte mich dem Haupteingang, mir schlug der Duft von Hibiskusblüten entgegen, und zögerlich klopfte ich an.
    Eine zart gebaute, grauhaarige Frau mittleren Alters öffnete die Tür.
    »Hallo, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte sie.
    Ich stellte mich vor, entschuldigte mich für mein unangekündigtes Erscheinen und erklärte ihr, es sei mir nicht möglich gewesen, sie anzurufen, da ich keine Telefonnummer gefunden hätte. Ich erklärte ihr, ich sei Schriftsteller und recherchierte einige Verbrechen, die vor mehreren Jahren in der Gegend von Cambridge, Newton und Somerville verübt worden waren, und wüsste gerne, ob ich ihr ein paar Fragen zu Will stellen dürfe oder, noch besser, mit ihm selbst sprechen könne.
    Sie war erschrocken, schlug mir jedoch nicht die Tür vor der Nase zu.
    »Ich weiß nicht, ob wir Ihnen weiterhelfen können«, sagte sie höflich.
    »Es tut mir wirklich leid, so hereinzuschneien«, erwiderte ich. »Ich habe lediglich ein paar Fragen.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Er will nicht …«, brachte sie heraus, doch weiter kam sie nicht. Während sie mich ansah, begann ihre Unterlippe zu zittern, und ihre Augen wurden feucht. »Es war einfach …« Doch in diesem Moment wurde sie von einer Stimme im Hintergrund unterbrochen: »Mutter, wer ist das?« Während sie zögerte, blickte ich an ihr vorbei und sah einen Mann im Rollstuhl aus einem Nebenzimmer kommen. Seine Haut war fahl, sein braunes Haar eine ungepflegte, strähnige Masse, die ihm fast bis auf die Schulter fiel. Über die obere rechte Stirnhälfte zog sich eine z-förmige, mattrote Narbe fast bis zur Augenbraue hinunter. Seine Arme schienen drahtig und muskulös, seine Brust dagegen eingefallen, beinahe ausgezehrt. Er hatte große Hände mit eleganten langen Fingern, und ich konnte mir ein vages Bild von dem Mann machen, der er einmal gewesen sein musste. Er rollte heran.
    Seine Mutter sah mich an. »Es war sehr schwer«, sagte sie leise und erstaunlich offenherzig.
    Die Gummireifen des Rollstuhls quietschten, als er stehenblieb. »Hallo«, sagte er nicht unfreundlich.
    Ich stellte mich vor und beeilte mich, ihm zu erklären, dass ich mich für das Verbrechen interessierte, das ihn zum Krüppel gemacht hatte.
    »Mein Verbrechen?« Er erwartete offensichtlich keine Antwort, denn er schob augenblicklich selbst eine hinterher. »Ich glaube nicht, dass es etwas Besonderes war. Ein gewöhnlicher Überfall. Jedenfalls kann ich Ihnen nicht allzu viel darüber erzählen«, sagte er. »Zwei Monate im Koma, und dann das …« Er deutete auf den Rollstuhl.
    »Hat es je Festnahmen gegeben?«
    »Nein, als ich endlich erwachte, war ich, fürchte ich, keine große Hilfe mehr. Ich kann mich absolut nicht mehr an diesen Abend erinnern. An rein gar nichts. Es ist, als drückte man auf einer Computertastatur auf die Backspace-Taste und sähe zu, wie die Buchstaben eines Textes einer nach dem anderen verschwinden. Man weiß zwar, dass der Text noch irgendwo auf der Festplatte sein muss, aber man hat keine Ahnung, wo. Er ist einfach weg.«
    »Sie waren auf dem Nachhauseweg von einem Date?«
    »Ja. Danach hatten wir nie wieder Kontakt. Nicht weiter verwunderlich. Ich war übel zugerichtet. Bin ich immer noch.« Er lachte trocken und lächelte gequält.
    Ich nickte. »Die Cops haben nicht viel rausgefunden, oder?«
    Er schüttelte den Kopf. »Na ja, ein paar Ungereimtheiten.«
    »Nämlich?«, hakte ich nach.
    »In Roxbury haben sie ein paar Jugendliche dabei erwischt, wie sie versuchten, meine Visa-Karte zu verwenden. Ein paar Tage lang dachten sie, diese Jungs hätten mich zusammengeschlagen, aber das hat sich nicht bestätigt. Sie hatten die Karte offenbar nur in der Nähe eines Müllcontainers aufgelesen.«
    »Ah. Aber wieso …«
    »Weil jemand anders in Dorchester meine Brieftasche mit sämtlichen Ausweispapieren gefunden hat, Sie wissen schon, Mensakarte, Sozial- und Krankenversicherung – alles noch beisammen. Meilenweit von dem Müllcontainer entfernt, wo die Jugendlichen meine Kreditkarte eingesackt hatten. Die

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