Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
reichte.
    Sie nahm das Gewehr heraus und ließ sich schwer in einen Ohrensessel neben dem Kamin fallen. Sie legte alle sechs Patronen ein, spannte den Hahn und wartete, die Waffe quer über dem Schoß. Das Gewehr war ölig, und als sie sich die Finger an der Hose abwischte, hinterließen sie schwarze Striemen. Auch wenn sie nicht viel von Waffen verstand, wusste sie zumindest, wie man eine Flinte entsicherte.
    Als Catherine draußen unmittelbar hinter den Fenstern die ersten Geräusche hörte, die sich der Haustür näherten, legte sie die Hand auf den Kolben.
     

     
    Sie starrte weiter aus dem Fenster, und ich konnte mir vorstellen, dass sie dem einen oder anderen Gedanken nachhing, als sie sich abrupt wieder zu mir umdrehte und fragte: »Haben Sie sich schon mal vorstellen können, dass Sie in der Lage wären, jemanden zu töten?«
    Als ich nicht gleich etwas entgegnete, schüttelte sie den Kopf. »Keine Antwort ist auch eine Antwort. Vielleicht fällt Ihnen eher etwas auf die Frage ein, wie wir den Tod romantisieren.«
    »Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen«, sagte ich vorsichtig.
    »Überlegen Sie mal, wie vielfältig wir uns in Formen von Gewalt ausdrücken. Im Fernsehen, im Kino. Videospiele für Kinder. Denken Sie an all die Studien, wonach das durchschnittliche Kind – wie viele Tode zu sehen bekommt? Viele tausend. In der Realität aber stellen wir fest, dass wir ziemlich hilflos reagieren, wenn wir uns tatsächlich einer lebensbedrohlichen Aggression gegenübersehen.« Ich ließ ihr Zeit, vom Fenster wegzutreten und durchs Zimmer zu mir zu zurückzukommen, um wieder stumm ihren Platz einzunehmen.
    »Wir reden uns ein«, sagte sie nach einer Weile, »im Moment der größten Gefahr wüssten wir genau, was wir zu tun haben. In Wahrheit ist es ganz anders. Wir machen Fehler. Wir schätzen eine Situation falsch ein. Unsere sämtlichen Schwächen überwältigen uns auf einmal. Wir bringen nicht fertig, wozu wir uns für fähig gehalten hatten. Es übersteigt unsere Kräfte.«
    »Und Ashley?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Schon mal daran gedacht, wie Angst uns lähmen kann?«

30
Eine Unterhaltung über die Liebe
     
    Catherine holte ein einziges Mal tief Luft und setzte die Flinte an die Schulter, während sie auf Geräusche von draußen horchte. Sie zählte im Stillen die Schritte. Vom Fenster bis zur Hausecke, an den in Reih und Glied aufgestellten Blumentöpfen vorbei bis zur Tür. Er wird es zuerst mit der Haustür versuchen, sagte sie sich. Auch wenn sich ihre Zunge geschwollen anfühlte, rief sie heiser:
    »Kommen Sie nur herein, Mr. O’Connell.«
    Sie brauchte nicht hinzuzufügen:
Ich habe Sie schon erwartet
. Einen Moment lang herrschte Stille, und Catherine horchte auf ihren eigenen schweren Atem, den ihr rasender Herzschlag beinahe übertönte. Sie hielt das Gewehr weiterhin in Anschlag und versuchte, sich zu beruhigen, während sie auf die Haustür zielte. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie auf irgendetwas geschossen. Nicht einmal zur Übung hatte sie je eine Waffe abgefeuert. Sie war in einem Arzthaushalt groß geworden. Hopes Vater dagegen hatte seine Kindheit auf einer Farm verbracht und als Unteroffizier bei der Marineinfanterie im Korea-Krieg gedient. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, er wäre jetzt an ihrer Seite.
    Nach ein, zwei Sekunden hörte sie, wie die Haustür aufging und jemand in die Diele trat.
    »Hier drinnen, Mr. O’Connell«, brachte sie mit rauer Stimme heraus.
    Mit festem Schritt kam O’Connell um die Ecke und stand in der Tür. Catherine zielte augenblicklich auf ihn, genau auf die Brust.
    »Hände hoch!« Ihr fiel nichts anderes ein. »Und rühren Sie sich nicht von der Stelle.«
    Michael O’Connell stand weder still, noch hob er die Hände. Stattdessen trat er ein Stück vor und deutete auf die Waffe.
    »Sie wollen auf mich schießen?«
    »Wenn Sie mich zwingen.«
    »Und was«, fing er an, während er den Blick durchs Zimmer schweifen ließ, als wollte er sich jeden Gegenstand, jede Farbe, jede Form, jeden Winkel einprägen, »was würde Sie dazu zwingen?« Er sagte das, als wäre es ein Scherz.
    »Ich denke, die Antwort wollen Sie nicht wirklich hören«, erwiderte sie schlagfertig.
    O’Connell schüttelte den Kopf, als verstünde er zwar, sei aber anderer Meinung. »Nein«, entgegnete er und kam noch ein Stückchen weiter heran, »genau das muss ich wissen.« Er lächelte. »Werden Sie schießen, wenn ich etwas sage, das Ihnen nicht gefällt?

Weitere Kostenlose Bücher